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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Auch in der Hauptstadt Belgiens, einer der kleineren Metropo¬
len von Europa, ist Deutschland nach allen seinen Ständen vertreten,
und hier gäbe es eine vollständige Colonie, wenn die Individuen
mit einander mehr zusammenhingen oder einen Gesammteinfluß auf
die öffentliche Meinung hatten. In Brüssel, wo ein deutscher König
residirr, wo es deutsche Kaufleute, Professoren, Buchhändler und
Schriftsteller gibt, wo das Volk germanisches Blut in den Adern
hat und eine niederdeutsche Mundart spricht, in Brüssel versteht man
Deutschland in'ehe mehr und nicht besser, als in Paris oder London.
Selbst in geselliger Beziehung ist der Verband zwischen den hiesigen
Deutschen sehr locker und zufällig, und nur zuweilen bilden sich auf
eine Saison lang interessante Kreise unter den durchreisenden oder
temporär verweilenden Deutschen.

Die wissenschaftlichen Bestrebungen der deutschen Professoren an
den belgischen Universitäten, die Herren Ginge, Ahrendt, Ahrens in.,
hat der Redacteur dieser Blatter in seinem Buche über Belgien ge¬
bührend gewürdigt, und ich kann mich daher jeder weiteren Bemer¬
kung über sie enthalten. Gegenwärtig leben hier Jacob Venedey,
Francis Grund, Moritz Hartmann und noch einige mehr oder weni¬
ger bekannte deutsche Schriftsteller. Venedcv ist ein stiller, liebens¬
würdiger Mann, ein frommer Blondkopf, in dessen Gesichte die Poesie
des Flüchtlingslebens deutlich geschrieben steht. Wenige von den
Deutschen, welche politisches Unglück in die Fremde trieb, haben ihr
Exil so ehrenhaft bestanden, wie er. Venedey ist vorzugsweise Ge¬
müthsmensch und man muß daher manche Lichter und Schatten in
seinen touristischen Büchern auf Rechnung poetischer Stimmungen
und Verstimmungen schreiben. Seiner Schrift über die deutschen
und französischen Sprichwörter, einer Frucht fleißiger Sammlung und
langen Studiums hat das Heimweh Farben geliehen, welche Deutsch¬
land gar zu rosig und Frankreich gar zu grau malen. Sein Buch
über Irland scheint uns eben so brillant wie einseitig; denn es ist
voll jener deutschen Ideologie, die dem Poeten besser steht als dem
Lander- und Völkerkritiker. Die kindliche Naivetät, den frischen Hu¬
mor, die angeborene Großmuth und die katholische Phantasie des iri¬
schen Volkes hat Venedey meisterhaft geschildert, aber seiner Sympa¬
thie für das reizende und, weil unterdrückt, doppelt liebenswürdige
Erin hat er sich dabei so blind hingegeben, daß er die Schwächen des
irischen Volkscharakters nur zu oft übersah oder zu gering anschlug,
und doch sind das wesentliche Punkte, wenn es darauf ankommt, Ir¬
lands Elend zu erklären, dessen Schuld nur halb auf Englands Schultern
liegt. Vieles hat die Geschichte verschuldet, d. h. nicht blos Englands,
sondern auch Irlands vergangenes Leben: Vieles die unverantwort¬
liche Lage der Dinge, -- wenn man will, die Geographie. Die Jr-
länder würden besser in den Süden taugen, wo das Leben ein phan-


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Auch in der Hauptstadt Belgiens, einer der kleineren Metropo¬
len von Europa, ist Deutschland nach allen seinen Ständen vertreten,
und hier gäbe es eine vollständige Colonie, wenn die Individuen
mit einander mehr zusammenhingen oder einen Gesammteinfluß auf
die öffentliche Meinung hatten. In Brüssel, wo ein deutscher König
residirr, wo es deutsche Kaufleute, Professoren, Buchhändler und
Schriftsteller gibt, wo das Volk germanisches Blut in den Adern
hat und eine niederdeutsche Mundart spricht, in Brüssel versteht man
Deutschland in'ehe mehr und nicht besser, als in Paris oder London.
Selbst in geselliger Beziehung ist der Verband zwischen den hiesigen
Deutschen sehr locker und zufällig, und nur zuweilen bilden sich auf
eine Saison lang interessante Kreise unter den durchreisenden oder
temporär verweilenden Deutschen.

Die wissenschaftlichen Bestrebungen der deutschen Professoren an
den belgischen Universitäten, die Herren Ginge, Ahrendt, Ahrens in.,
hat der Redacteur dieser Blatter in seinem Buche über Belgien ge¬
bührend gewürdigt, und ich kann mich daher jeder weiteren Bemer¬
kung über sie enthalten. Gegenwärtig leben hier Jacob Venedey,
Francis Grund, Moritz Hartmann und noch einige mehr oder weni¬
ger bekannte deutsche Schriftsteller. Venedcv ist ein stiller, liebens¬
würdiger Mann, ein frommer Blondkopf, in dessen Gesichte die Poesie
des Flüchtlingslebens deutlich geschrieben steht. Wenige von den
Deutschen, welche politisches Unglück in die Fremde trieb, haben ihr
Exil so ehrenhaft bestanden, wie er. Venedey ist vorzugsweise Ge¬
müthsmensch und man muß daher manche Lichter und Schatten in
seinen touristischen Büchern auf Rechnung poetischer Stimmungen
und Verstimmungen schreiben. Seiner Schrift über die deutschen
und französischen Sprichwörter, einer Frucht fleißiger Sammlung und
langen Studiums hat das Heimweh Farben geliehen, welche Deutsch¬
land gar zu rosig und Frankreich gar zu grau malen. Sein Buch
über Irland scheint uns eben so brillant wie einseitig; denn es ist
voll jener deutschen Ideologie, die dem Poeten besser steht als dem
Lander- und Völkerkritiker. Die kindliche Naivetät, den frischen Hu¬
mor, die angeborene Großmuth und die katholische Phantasie des iri¬
schen Volkes hat Venedey meisterhaft geschildert, aber seiner Sympa¬
thie für das reizende und, weil unterdrückt, doppelt liebenswürdige
Erin hat er sich dabei so blind hingegeben, daß er die Schwächen des
irischen Volkscharakters nur zu oft übersah oder zu gering anschlug,
und doch sind das wesentliche Punkte, wenn es darauf ankommt, Ir¬
lands Elend zu erklären, dessen Schuld nur halb auf Englands Schultern
liegt. Vieles hat die Geschichte verschuldet, d. h. nicht blos Englands,
sondern auch Irlands vergangenes Leben: Vieles die unverantwort¬
liche Lage der Dinge, — wenn man will, die Geographie. Die Jr-
länder würden besser in den Süden taugen, wo das Leben ein phan-


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[0507] Auch in der Hauptstadt Belgiens, einer der kleineren Metropo¬ len von Europa, ist Deutschland nach allen seinen Ständen vertreten, und hier gäbe es eine vollständige Colonie, wenn die Individuen mit einander mehr zusammenhingen oder einen Gesammteinfluß auf die öffentliche Meinung hatten. In Brüssel, wo ein deutscher König residirr, wo es deutsche Kaufleute, Professoren, Buchhändler und Schriftsteller gibt, wo das Volk germanisches Blut in den Adern hat und eine niederdeutsche Mundart spricht, in Brüssel versteht man Deutschland in'ehe mehr und nicht besser, als in Paris oder London. Selbst in geselliger Beziehung ist der Verband zwischen den hiesigen Deutschen sehr locker und zufällig, und nur zuweilen bilden sich auf eine Saison lang interessante Kreise unter den durchreisenden oder temporär verweilenden Deutschen. Die wissenschaftlichen Bestrebungen der deutschen Professoren an den belgischen Universitäten, die Herren Ginge, Ahrendt, Ahrens in., hat der Redacteur dieser Blatter in seinem Buche über Belgien ge¬ bührend gewürdigt, und ich kann mich daher jeder weiteren Bemer¬ kung über sie enthalten. Gegenwärtig leben hier Jacob Venedey, Francis Grund, Moritz Hartmann und noch einige mehr oder weni¬ ger bekannte deutsche Schriftsteller. Venedcv ist ein stiller, liebens¬ würdiger Mann, ein frommer Blondkopf, in dessen Gesichte die Poesie des Flüchtlingslebens deutlich geschrieben steht. Wenige von den Deutschen, welche politisches Unglück in die Fremde trieb, haben ihr Exil so ehrenhaft bestanden, wie er. Venedey ist vorzugsweise Ge¬ müthsmensch und man muß daher manche Lichter und Schatten in seinen touristischen Büchern auf Rechnung poetischer Stimmungen und Verstimmungen schreiben. Seiner Schrift über die deutschen und französischen Sprichwörter, einer Frucht fleißiger Sammlung und langen Studiums hat das Heimweh Farben geliehen, welche Deutsch¬ land gar zu rosig und Frankreich gar zu grau malen. Sein Buch über Irland scheint uns eben so brillant wie einseitig; denn es ist voll jener deutschen Ideologie, die dem Poeten besser steht als dem Lander- und Völkerkritiker. Die kindliche Naivetät, den frischen Hu¬ mor, die angeborene Großmuth und die katholische Phantasie des iri¬ schen Volkes hat Venedey meisterhaft geschildert, aber seiner Sympa¬ thie für das reizende und, weil unterdrückt, doppelt liebenswürdige Erin hat er sich dabei so blind hingegeben, daß er die Schwächen des irischen Volkscharakters nur zu oft übersah oder zu gering anschlug, und doch sind das wesentliche Punkte, wenn es darauf ankommt, Ir¬ lands Elend zu erklären, dessen Schuld nur halb auf Englands Schultern liegt. Vieles hat die Geschichte verschuldet, d. h. nicht blos Englands, sondern auch Irlands vergangenes Leben: Vieles die unverantwort¬ liche Lage der Dinge, — wenn man will, die Geographie. Die Jr- länder würden besser in den Süden taugen, wo das Leben ein phan- 64*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/507>, abgerufen am 05.02.2025.