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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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ßerordentlicher Gesandter nach London, wo er ein Schutz- und Trutz-
bündniß zwischen England und der Pforte gegen Rußland zu erwir¬
ken hoffte. Auf der Reise berührte er Paris,' Brüssel, Berlin, Wien
und Rom. Dort hatte der Gesandte des "Feindes der Christenheit"
eine Audienz beim heiligen Bater. Gewiß ein merkwürdiges Ereig-
mß in der Geschichte des ottomanischen Reiches.

In Paris erhielt Neschid, gegen Ende des Jahres 1839, die
Nachricht von der Niederlage der Türken bei Nezib und vom Hin¬
tritte des Sultans Mahmud, den ein Uebermaß von Aufklärung ge-
tödtet hatte. Der Padischah hatte sich nämlich durch ein zu fort¬
währendes Uebertreten des Verbotes gegen geistige Getränke das dv-
lii'imm trvi"eil8 zugezogen, eine Krankheit, die in der Geschichte der
Abkömmlinge des Propheten wohl unerhört war, und die der otto¬
manische HauShistoriograph wohl eben so ruhig verschweigen wird,
wie die russischen Schulbücher die Todesart von Peter und Paul
verschweigen.

Um den Manoeuvern Chosrew'ö zuvorzukommen, eilte Neschid
heim und langte am 4. September in Stambul an; aber schon hatte
der graue Schlaukopf sich des Ruders bemächtigt und sich eine so
feste Stellung geschaffen, daß Neschid es nicht offen mit ihm aufzu-
nehmen wagte. Er griff also zu den alten Hausmitteln orientalischer
(und auch occidentalischer) Politik, machte sich klein und bescheiden,
schürte dabei den aufkeimenden Haß Chosrew's gegen Haut und
Achmet, und wußte, nachdem er diese Spaltung zwischen seinen
Todfeinden unversöhnlich gemacht, bald mit geschickter Hand alle
seine Widersacher aus der Nähe des Thrones zu entfernen. Allmä-
lig wuchs sein Einfluß auf den Divan, dessen Macht sich durch die
Jugend deö Sultans bis zur Unabhängigkeit steigerte, und er be¬
nutzte die critische Lage deS Reiches, das einerseits von Mehemed-Ali
und den Mächten, andererseits von inneren Gährungen bedroht war,
als den rechten Moment für eine große und wesentliche Reform.
Wir meinen das Decret von Gul-Ha,^. Der gewandte Neschid
hatte es selbst redigirt, seine College,, im Divan, der junge Sultan
und der Scheik-ni-Islam, der türkische Pontifer, hatten es sanctio-
nirt, und die Verkündung des wichtigen Actenstückes geschah mit al¬
lem Pomp und aller erdenklichen Feierlichkeit des Orients.

Es war der dritte November 1839, ein Sonntag. Ein weiter


ßerordentlicher Gesandter nach London, wo er ein Schutz- und Trutz-
bündniß zwischen England und der Pforte gegen Rußland zu erwir¬
ken hoffte. Auf der Reise berührte er Paris,' Brüssel, Berlin, Wien
und Rom. Dort hatte der Gesandte des „Feindes der Christenheit"
eine Audienz beim heiligen Bater. Gewiß ein merkwürdiges Ereig-
mß in der Geschichte des ottomanischen Reiches.

In Paris erhielt Neschid, gegen Ende des Jahres 1839, die
Nachricht von der Niederlage der Türken bei Nezib und vom Hin¬
tritte des Sultans Mahmud, den ein Uebermaß von Aufklärung ge-
tödtet hatte. Der Padischah hatte sich nämlich durch ein zu fort¬
währendes Uebertreten des Verbotes gegen geistige Getränke das dv-
lii'imm trvi»eil8 zugezogen, eine Krankheit, die in der Geschichte der
Abkömmlinge des Propheten wohl unerhört war, und die der otto¬
manische HauShistoriograph wohl eben so ruhig verschweigen wird,
wie die russischen Schulbücher die Todesart von Peter und Paul
verschweigen.

Um den Manoeuvern Chosrew'ö zuvorzukommen, eilte Neschid
heim und langte am 4. September in Stambul an; aber schon hatte
der graue Schlaukopf sich des Ruders bemächtigt und sich eine so
feste Stellung geschaffen, daß Neschid es nicht offen mit ihm aufzu-
nehmen wagte. Er griff also zu den alten Hausmitteln orientalischer
(und auch occidentalischer) Politik, machte sich klein und bescheiden,
schürte dabei den aufkeimenden Haß Chosrew's gegen Haut und
Achmet, und wußte, nachdem er diese Spaltung zwischen seinen
Todfeinden unversöhnlich gemacht, bald mit geschickter Hand alle
seine Widersacher aus der Nähe des Thrones zu entfernen. Allmä-
lig wuchs sein Einfluß auf den Divan, dessen Macht sich durch die
Jugend deö Sultans bis zur Unabhängigkeit steigerte, und er be¬
nutzte die critische Lage deS Reiches, das einerseits von Mehemed-Ali
und den Mächten, andererseits von inneren Gährungen bedroht war,
als den rechten Moment für eine große und wesentliche Reform.
Wir meinen das Decret von Gul-Ha,^. Der gewandte Neschid
hatte es selbst redigirt, seine College,, im Divan, der junge Sultan
und der Scheik-ni-Islam, der türkische Pontifer, hatten es sanctio-
nirt, und die Verkündung des wichtigen Actenstückes geschah mit al¬
lem Pomp und aller erdenklichen Feierlichkeit des Orients.

Es war der dritte November 1839, ein Sonntag. Ein weiter


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[0452] ßerordentlicher Gesandter nach London, wo er ein Schutz- und Trutz- bündniß zwischen England und der Pforte gegen Rußland zu erwir¬ ken hoffte. Auf der Reise berührte er Paris,' Brüssel, Berlin, Wien und Rom. Dort hatte der Gesandte des „Feindes der Christenheit" eine Audienz beim heiligen Bater. Gewiß ein merkwürdiges Ereig- mß in der Geschichte des ottomanischen Reiches. In Paris erhielt Neschid, gegen Ende des Jahres 1839, die Nachricht von der Niederlage der Türken bei Nezib und vom Hin¬ tritte des Sultans Mahmud, den ein Uebermaß von Aufklärung ge- tödtet hatte. Der Padischah hatte sich nämlich durch ein zu fort¬ währendes Uebertreten des Verbotes gegen geistige Getränke das dv- lii'imm trvi»eil8 zugezogen, eine Krankheit, die in der Geschichte der Abkömmlinge des Propheten wohl unerhört war, und die der otto¬ manische HauShistoriograph wohl eben so ruhig verschweigen wird, wie die russischen Schulbücher die Todesart von Peter und Paul verschweigen. Um den Manoeuvern Chosrew'ö zuvorzukommen, eilte Neschid heim und langte am 4. September in Stambul an; aber schon hatte der graue Schlaukopf sich des Ruders bemächtigt und sich eine so feste Stellung geschaffen, daß Neschid es nicht offen mit ihm aufzu- nehmen wagte. Er griff also zu den alten Hausmitteln orientalischer (und auch occidentalischer) Politik, machte sich klein und bescheiden, schürte dabei den aufkeimenden Haß Chosrew's gegen Haut und Achmet, und wußte, nachdem er diese Spaltung zwischen seinen Todfeinden unversöhnlich gemacht, bald mit geschickter Hand alle seine Widersacher aus der Nähe des Thrones zu entfernen. Allmä- lig wuchs sein Einfluß auf den Divan, dessen Macht sich durch die Jugend deö Sultans bis zur Unabhängigkeit steigerte, und er be¬ nutzte die critische Lage deS Reiches, das einerseits von Mehemed-Ali und den Mächten, andererseits von inneren Gährungen bedroht war, als den rechten Moment für eine große und wesentliche Reform. Wir meinen das Decret von Gul-Ha,^. Der gewandte Neschid hatte es selbst redigirt, seine College,, im Divan, der junge Sultan und der Scheik-ni-Islam, der türkische Pontifer, hatten es sanctio- nirt, und die Verkündung des wichtigen Actenstückes geschah mit al¬ lem Pomp und aller erdenklichen Feierlichkeit des Orients. Es war der dritte November 1839, ein Sonntag. Ein weiter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/452>, abgerufen am 06.02.2025.