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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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darischen Stämme am caspischen Meere, von Hause aus ein Noma-
denvolk, von den Arabern mit dem Koran nur den Geist der Er¬
oberung, nicht der arabischen Bildung annahm und in Europa nur
zerstört, nicht gebaut hat, -- diese Race zählt heutzutage nicht mehr
als drei oder vier Millionen Seelen, Weiber und Kinder mitgerech¬
net; und diese vier Millionen sind in Asien und Europa auf einen
Flächenraum zerstreut, der zweimal so groß ist als Deutschland.
DaS Erobcrungsvolk hat sich mit den übrigen Einwohnerstämmen
nicht vermischt, sondern steht gleichsam als -- ohnmächtiger -- Herr
über ihnen. Die zurückgesetzten Stämme sind theils durch Abstam¬
mung und Sprache, theils auch durch Religion und Sitte von ihnen
geschieden, sind aber viel zahlreicher als ihre Herren; in seinem blinden
Stolze hat es der Türke verschmäht, sie in sich aufzunehmen, und, als
er mächtig war, hat er sie nur zu unterdrücken verstanden, statt sie
an seiner Große theilnehmen zu lassen und dadurch zu entwaffnen.
Heutzutage daher, wo sie die Hinfälligkeit ihres alten Despoten sa¬
hen, zeigten sie sich für seine späten und unfreiwilligen Zugeständnisse
nichts weniger als erkenntlich, sondern nur um so mehr geneigt, sein
Joch völlig abzuschütteln. Eben so haben die seit dreißig Jahren
unternommenen Reformversuche bisher nur dazu gedient, das erobernde
Volk zu schwächen und sein einziges Lebensprincip, den Fanatismus,
abzutödten, während sie das Volk der Najahs nicht befriedigt und
nicht gewonnen, sondern mit Gedanken der Unabhängigkeit erfüllt
haben. So ist die Pforte ein baufälliges Haus; se-nus pu" oder
Reform, beides droht ihm gleiche Gefahr und hängt außerdem von
dem Gutdünken einer Schutzmacht ab, in deren Interresse es liegt,
daß das alte Haus baldmöglichst eingerissen oder im baufälligen
Zustande so lange erhalten wird, bis es von selber zusammenstürzt.
Bedenkt man dies Alles, so möchte man allerdings glauben, daß
der "Vorabend großer Ereignisse," von der unsere constantinopoli-
tcmischm Zeitungscorrespondenten seit Jahren reden, doch mehr als
eine Phrase ist.

Allein das Bild hat auch eine andere Seite. Derselbe Grund,
der eine Verschmelzung der Ottomanen mit den unterworfenen Völ¬
kern zu einem nationalen Ganzen verhinderte, ließ auch die letzte¬
ren zu keiner Vereinigung kommen. Die Araber, Kopten, Türken,
Maroniten, Drusen, Kurden, u. s. w. in Asien, die Armenier, Alba-


darischen Stämme am caspischen Meere, von Hause aus ein Noma-
denvolk, von den Arabern mit dem Koran nur den Geist der Er¬
oberung, nicht der arabischen Bildung annahm und in Europa nur
zerstört, nicht gebaut hat, — diese Race zählt heutzutage nicht mehr
als drei oder vier Millionen Seelen, Weiber und Kinder mitgerech¬
net; und diese vier Millionen sind in Asien und Europa auf einen
Flächenraum zerstreut, der zweimal so groß ist als Deutschland.
DaS Erobcrungsvolk hat sich mit den übrigen Einwohnerstämmen
nicht vermischt, sondern steht gleichsam als — ohnmächtiger — Herr
über ihnen. Die zurückgesetzten Stämme sind theils durch Abstam¬
mung und Sprache, theils auch durch Religion und Sitte von ihnen
geschieden, sind aber viel zahlreicher als ihre Herren; in seinem blinden
Stolze hat es der Türke verschmäht, sie in sich aufzunehmen, und, als
er mächtig war, hat er sie nur zu unterdrücken verstanden, statt sie
an seiner Große theilnehmen zu lassen und dadurch zu entwaffnen.
Heutzutage daher, wo sie die Hinfälligkeit ihres alten Despoten sa¬
hen, zeigten sie sich für seine späten und unfreiwilligen Zugeständnisse
nichts weniger als erkenntlich, sondern nur um so mehr geneigt, sein
Joch völlig abzuschütteln. Eben so haben die seit dreißig Jahren
unternommenen Reformversuche bisher nur dazu gedient, das erobernde
Volk zu schwächen und sein einziges Lebensprincip, den Fanatismus,
abzutödten, während sie das Volk der Najahs nicht befriedigt und
nicht gewonnen, sondern mit Gedanken der Unabhängigkeit erfüllt
haben. So ist die Pforte ein baufälliges Haus; se-nus pu» oder
Reform, beides droht ihm gleiche Gefahr und hängt außerdem von
dem Gutdünken einer Schutzmacht ab, in deren Interresse es liegt,
daß das alte Haus baldmöglichst eingerissen oder im baufälligen
Zustande so lange erhalten wird, bis es von selber zusammenstürzt.
Bedenkt man dies Alles, so möchte man allerdings glauben, daß
der „Vorabend großer Ereignisse," von der unsere constantinopoli-
tcmischm Zeitungscorrespondenten seit Jahren reden, doch mehr als
eine Phrase ist.

Allein das Bild hat auch eine andere Seite. Derselbe Grund,
der eine Verschmelzung der Ottomanen mit den unterworfenen Völ¬
kern zu einem nationalen Ganzen verhinderte, ließ auch die letzte¬
ren zu keiner Vereinigung kommen. Die Araber, Kopten, Türken,
Maroniten, Drusen, Kurden, u. s. w. in Asien, die Armenier, Alba-


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[0445] darischen Stämme am caspischen Meere, von Hause aus ein Noma- denvolk, von den Arabern mit dem Koran nur den Geist der Er¬ oberung, nicht der arabischen Bildung annahm und in Europa nur zerstört, nicht gebaut hat, — diese Race zählt heutzutage nicht mehr als drei oder vier Millionen Seelen, Weiber und Kinder mitgerech¬ net; und diese vier Millionen sind in Asien und Europa auf einen Flächenraum zerstreut, der zweimal so groß ist als Deutschland. DaS Erobcrungsvolk hat sich mit den übrigen Einwohnerstämmen nicht vermischt, sondern steht gleichsam als — ohnmächtiger — Herr über ihnen. Die zurückgesetzten Stämme sind theils durch Abstam¬ mung und Sprache, theils auch durch Religion und Sitte von ihnen geschieden, sind aber viel zahlreicher als ihre Herren; in seinem blinden Stolze hat es der Türke verschmäht, sie in sich aufzunehmen, und, als er mächtig war, hat er sie nur zu unterdrücken verstanden, statt sie an seiner Große theilnehmen zu lassen und dadurch zu entwaffnen. Heutzutage daher, wo sie die Hinfälligkeit ihres alten Despoten sa¬ hen, zeigten sie sich für seine späten und unfreiwilligen Zugeständnisse nichts weniger als erkenntlich, sondern nur um so mehr geneigt, sein Joch völlig abzuschütteln. Eben so haben die seit dreißig Jahren unternommenen Reformversuche bisher nur dazu gedient, das erobernde Volk zu schwächen und sein einziges Lebensprincip, den Fanatismus, abzutödten, während sie das Volk der Najahs nicht befriedigt und nicht gewonnen, sondern mit Gedanken der Unabhängigkeit erfüllt haben. So ist die Pforte ein baufälliges Haus; se-nus pu» oder Reform, beides droht ihm gleiche Gefahr und hängt außerdem von dem Gutdünken einer Schutzmacht ab, in deren Interresse es liegt, daß das alte Haus baldmöglichst eingerissen oder im baufälligen Zustande so lange erhalten wird, bis es von selber zusammenstürzt. Bedenkt man dies Alles, so möchte man allerdings glauben, daß der „Vorabend großer Ereignisse," von der unsere constantinopoli- tcmischm Zeitungscorrespondenten seit Jahren reden, doch mehr als eine Phrase ist. Allein das Bild hat auch eine andere Seite. Derselbe Grund, der eine Verschmelzung der Ottomanen mit den unterworfenen Völ¬ kern zu einem nationalen Ganzen verhinderte, ließ auch die letzte¬ ren zu keiner Vereinigung kommen. Die Araber, Kopten, Türken, Maroniten, Drusen, Kurden, u. s. w. in Asien, die Armenier, Alba-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/445>, abgerufen am 05.02.2025.