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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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III.
Aus Berlin.

Die überlieferte" Lehren und das Resultat der freien Forschung. -- Der
Schleiermacbersche Standpunkt. -- Die Principien Iber Reformation. -- Der
eigentliche Hergang. -- Herr Hengstenberg zieht alle Register.

Um was ist der Streit? -- Die Besonnensten und Gewandte¬
sten der Kämpfer gegen den Protest vom 12. August suchen den Ge¬
genstand des Streites nicht auf der Oberfläche, sondern in der Tiefe.
Sie fragen nicht, um was streiten wir, die Gegner des Protestes,
mit dessen Unterzeichnern? sondern sie fragen: um was wird bei uns
auf dem kirchlichen Felde überhaupt gestritten? und sodann: welche
Stellung zu diesem Streite nehmen wir und nehmen Jene ein?

Es geht um die überlieferte Lehre, antworten sie, nicht um ir¬
gend eine Richtung, irgend eines Blattes, irgend einer Partei, es
geht um die Lehre, welche in den symbolischen Büchern der Refor¬
mationszeit ausgedrückt ist, und nicht nur dies, um die Lehre, welche
schon in den alten Symbolen, schon in dem sogenannten apostolischen
Glaubensbekenntnisse enthalten ist, ja, es geht um die H. Schrift
selbst und um das ganze Christenthum. "Das Resultat der freien
Forschung," sagt Thilo der Landpastor -- in den "Unmündigen
Fragen" --, "nämlich daß die Glaubensbekenntnisse und die Bibel
voller Lügen stecken, die der freigewordene Menschengeist ausscheiden
müsse, wird in Volksversammlungen und vor vielen Tausenden und
in Zeitungen verbreitet, und die Prediger dieser neuen Lehre dringen
auf Presbyterialverfassung, damit der von ihnen im Volke verbreitete
Unglaube zur Herrschaft gelange." "Mich dünkt," sagt er weiter,
"daß das die allcrversinstertste Vernunft, wenn auch nur ein Fünk-
lein von natürlichem Lichte übrig geblieben ist, begreifen kann, daß,
wenn der Eine sagt: ich glaube das, und der Ändere: ich glaube
das nicht -- beide nicht Eines Glaubens sind, und daher nicht in
derselben Kirche lehren können, die nur durch die Einheit des Glau-
brns an dasselbe Bekenntniß gebildet wird." -- Es ist allerdings sehr
leicht einzusehen, daß, wenn Zwei nicht denselben Glauben haben, sie
nicht Eines Glaubens sind; aber um nun die weitere Folgerung,
welche Herr Thilo in Bezug auf das Lehren in derselben Kirche macht,
einzuräumen, muß erst zugegeben sein, daß das Bekenntniß eines ge¬
wissen feststehenden Glaubensinhaltes die Kirche, und zwar die pro¬
testantische insbesondere, zu dem mache, was sie ist, oder auch nur
was sie sein soll; und das ist nun ein Punct, den nicht nur die
Gegner des Herrn Thilo nicht so unbedingt zugeben, sondern den
auch Herr Thilo selbst nicht unbedingt fordern kann, weil er zu der
preußischen'evangelischen Landeskirche gehört, in welcher das "lutherische"
Glaubensbekenntnis^ sagt: ich glaube das und das, wovon das "re-


III.
Aus Berlin.

Die überlieferte» Lehren und das Resultat der freien Forschung. — Der
Schleiermacbersche Standpunkt. — Die Principien Iber Reformation. — Der
eigentliche Hergang. — Herr Hengstenberg zieht alle Register.

Um was ist der Streit? — Die Besonnensten und Gewandte¬
sten der Kämpfer gegen den Protest vom 12. August suchen den Ge¬
genstand des Streites nicht auf der Oberfläche, sondern in der Tiefe.
Sie fragen nicht, um was streiten wir, die Gegner des Protestes,
mit dessen Unterzeichnern? sondern sie fragen: um was wird bei uns
auf dem kirchlichen Felde überhaupt gestritten? und sodann: welche
Stellung zu diesem Streite nehmen wir und nehmen Jene ein?

Es geht um die überlieferte Lehre, antworten sie, nicht um ir¬
gend eine Richtung, irgend eines Blattes, irgend einer Partei, es
geht um die Lehre, welche in den symbolischen Büchern der Refor¬
mationszeit ausgedrückt ist, und nicht nur dies, um die Lehre, welche
schon in den alten Symbolen, schon in dem sogenannten apostolischen
Glaubensbekenntnisse enthalten ist, ja, es geht um die H. Schrift
selbst und um das ganze Christenthum. „Das Resultat der freien
Forschung," sagt Thilo der Landpastor — in den „Unmündigen
Fragen" —, „nämlich daß die Glaubensbekenntnisse und die Bibel
voller Lügen stecken, die der freigewordene Menschengeist ausscheiden
müsse, wird in Volksversammlungen und vor vielen Tausenden und
in Zeitungen verbreitet, und die Prediger dieser neuen Lehre dringen
auf Presbyterialverfassung, damit der von ihnen im Volke verbreitete
Unglaube zur Herrschaft gelange." „Mich dünkt," sagt er weiter,
„daß das die allcrversinstertste Vernunft, wenn auch nur ein Fünk-
lein von natürlichem Lichte übrig geblieben ist, begreifen kann, daß,
wenn der Eine sagt: ich glaube das, und der Ändere: ich glaube
das nicht — beide nicht Eines Glaubens sind, und daher nicht in
derselben Kirche lehren können, die nur durch die Einheit des Glau-
brns an dasselbe Bekenntniß gebildet wird." — Es ist allerdings sehr
leicht einzusehen, daß, wenn Zwei nicht denselben Glauben haben, sie
nicht Eines Glaubens sind; aber um nun die weitere Folgerung,
welche Herr Thilo in Bezug auf das Lehren in derselben Kirche macht,
einzuräumen, muß erst zugegeben sein, daß das Bekenntniß eines ge¬
wissen feststehenden Glaubensinhaltes die Kirche, und zwar die pro¬
testantische insbesondere, zu dem mache, was sie ist, oder auch nur
was sie sein soll; und das ist nun ein Punct, den nicht nur die
Gegner des Herrn Thilo nicht so unbedingt zugeben, sondern den
auch Herr Thilo selbst nicht unbedingt fordern kann, weil er zu der
preußischen'evangelischen Landeskirche gehört, in welcher das „lutherische"
Glaubensbekenntnis^ sagt: ich glaube das und das, wovon das „re-


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[0421] III. Aus Berlin. Die überlieferte» Lehren und das Resultat der freien Forschung. — Der Schleiermacbersche Standpunkt. — Die Principien Iber Reformation. — Der eigentliche Hergang. — Herr Hengstenberg zieht alle Register. Um was ist der Streit? — Die Besonnensten und Gewandte¬ sten der Kämpfer gegen den Protest vom 12. August suchen den Ge¬ genstand des Streites nicht auf der Oberfläche, sondern in der Tiefe. Sie fragen nicht, um was streiten wir, die Gegner des Protestes, mit dessen Unterzeichnern? sondern sie fragen: um was wird bei uns auf dem kirchlichen Felde überhaupt gestritten? und sodann: welche Stellung zu diesem Streite nehmen wir und nehmen Jene ein? Es geht um die überlieferte Lehre, antworten sie, nicht um ir¬ gend eine Richtung, irgend eines Blattes, irgend einer Partei, es geht um die Lehre, welche in den symbolischen Büchern der Refor¬ mationszeit ausgedrückt ist, und nicht nur dies, um die Lehre, welche schon in den alten Symbolen, schon in dem sogenannten apostolischen Glaubensbekenntnisse enthalten ist, ja, es geht um die H. Schrift selbst und um das ganze Christenthum. „Das Resultat der freien Forschung," sagt Thilo der Landpastor — in den „Unmündigen Fragen" —, „nämlich daß die Glaubensbekenntnisse und die Bibel voller Lügen stecken, die der freigewordene Menschengeist ausscheiden müsse, wird in Volksversammlungen und vor vielen Tausenden und in Zeitungen verbreitet, und die Prediger dieser neuen Lehre dringen auf Presbyterialverfassung, damit der von ihnen im Volke verbreitete Unglaube zur Herrschaft gelange." „Mich dünkt," sagt er weiter, „daß das die allcrversinstertste Vernunft, wenn auch nur ein Fünk- lein von natürlichem Lichte übrig geblieben ist, begreifen kann, daß, wenn der Eine sagt: ich glaube das, und der Ändere: ich glaube das nicht — beide nicht Eines Glaubens sind, und daher nicht in derselben Kirche lehren können, die nur durch die Einheit des Glau- brns an dasselbe Bekenntniß gebildet wird." — Es ist allerdings sehr leicht einzusehen, daß, wenn Zwei nicht denselben Glauben haben, sie nicht Eines Glaubens sind; aber um nun die weitere Folgerung, welche Herr Thilo in Bezug auf das Lehren in derselben Kirche macht, einzuräumen, muß erst zugegeben sein, daß das Bekenntniß eines ge¬ wissen feststehenden Glaubensinhaltes die Kirche, und zwar die pro¬ testantische insbesondere, zu dem mache, was sie ist, oder auch nur was sie sein soll; und das ist nun ein Punct, den nicht nur die Gegner des Herrn Thilo nicht so unbedingt zugeben, sondern den auch Herr Thilo selbst nicht unbedingt fordern kann, weil er zu der preußischen'evangelischen Landeskirche gehört, in welcher das „lutherische" Glaubensbekenntnis^ sagt: ich glaube das und das, wovon das „re-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/421>, abgerufen am 05.02.2025.