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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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lich bei der Besetzung einzelner Staatsämter, zumal der höchsten,
nicht ganz ignoriren zu dürfen glaubte.

Der eonstituirende Landtag war am 9. März beendet, und
schon vier Wochen darauf am I I. April wurde der erste konstitutio¬
nelle Landtag eröffnet. Der Churfürst schien einen Augenblick ge¬
neigt, den Vorstellungen, daß seine Abwesenheit von Cassel die Er¬
ledigung der Landtagsgeschäste außerordentlich erschweren würde, und den
vereinigten Bitten der Ständeversammlung und der Kasseler Bürger¬
schaft nachzugeben und in seine Residenz zurückzukehren, ließ sich aber
durch die inzwischen nicht rastenden Demonstrationen der Volkserbit¬
terung gegen die Gräfin Reichenbach wieder davon abbringen und
legte die Regierung für die Zeit seiner Abwesenheit ganz in die
Hände des Churvrinzen, indem er sich selbst nur einige Schlösser,
wie Hanau, Philippsruhe und die Einkünfte des Hausschatzes vor¬
behielt. Am 30. Sept. trat der Churprinz, auf den man jetzt die
herrlichsten Hoffnungen baute, die Regentschaft an. Jedoch die Fa¬
milienverhältnisse des regierenden Hauses hörten auch jetzt nicht auf,
den treuen Hessen Sorge und Noth zu bereiten. Die morganatische
Ehe des Churprinzen ward Schuld an einem Zerwürfnis; mit seiner
Mutter und die Spannung am Hofe verursachte kleinliche Neckereien,
die sich sogar die Hofhaltung des Regenten gegen die Churfürstin
herausnahm. Die Churfürstin fand am 3. December, als sie das
Theater besuchen wollte, ihre Loge verschlossen, und mußte unverrich-
teter Sache nach Hause zurückkehren. Die Stadt war in Aufruhr,
als dieser Vorfall ruchbar wurde und man mußte Seitens des Ho¬
fes den Mißgriff wieder gut zu machen suchen. Am 7. erschien die
Churfürstin in dem vollgedrängten Theater und wurde mit stürmi¬
schem Jubel empfangen. Nach der Vorstellung aber entstand Ge¬
dränge und das zur Aufrechterhaltung der Ruhe beorderte Militär
machte von den Waffen Gebrauch, nicht ohne Vorsicht, wie es heißt,
aber doch so, daß eine Anzahl von Personen verwundet und selbst
Jemand getödtet wurde. Der Polizeidirector, der die Anordnungen
für die Handhabung der Ordnung an diesem Abend getroffen hatte,
wurde seiner Stelle entsetzt und in Untersuchung gezogen, zugleich
aber mit einem Orden belohnt. Die Stimmung des Volkes blieb
daher fortwährend gereizt und der Argwohn der Masse beständig
wach. Jordan, der auch bei diesem Landtag die Landesuniversität


Grcnjboten, I8in. VI. 51

lich bei der Besetzung einzelner Staatsämter, zumal der höchsten,
nicht ganz ignoriren zu dürfen glaubte.

Der eonstituirende Landtag war am 9. März beendet, und
schon vier Wochen darauf am I I. April wurde der erste konstitutio¬
nelle Landtag eröffnet. Der Churfürst schien einen Augenblick ge¬
neigt, den Vorstellungen, daß seine Abwesenheit von Cassel die Er¬
ledigung der Landtagsgeschäste außerordentlich erschweren würde, und den
vereinigten Bitten der Ständeversammlung und der Kasseler Bürger¬
schaft nachzugeben und in seine Residenz zurückzukehren, ließ sich aber
durch die inzwischen nicht rastenden Demonstrationen der Volkserbit¬
terung gegen die Gräfin Reichenbach wieder davon abbringen und
legte die Regierung für die Zeit seiner Abwesenheit ganz in die
Hände des Churvrinzen, indem er sich selbst nur einige Schlösser,
wie Hanau, Philippsruhe und die Einkünfte des Hausschatzes vor¬
behielt. Am 30. Sept. trat der Churprinz, auf den man jetzt die
herrlichsten Hoffnungen baute, die Regentschaft an. Jedoch die Fa¬
milienverhältnisse des regierenden Hauses hörten auch jetzt nicht auf,
den treuen Hessen Sorge und Noth zu bereiten. Die morganatische
Ehe des Churprinzen ward Schuld an einem Zerwürfnis; mit seiner
Mutter und die Spannung am Hofe verursachte kleinliche Neckereien,
die sich sogar die Hofhaltung des Regenten gegen die Churfürstin
herausnahm. Die Churfürstin fand am 3. December, als sie das
Theater besuchen wollte, ihre Loge verschlossen, und mußte unverrich-
teter Sache nach Hause zurückkehren. Die Stadt war in Aufruhr,
als dieser Vorfall ruchbar wurde und man mußte Seitens des Ho¬
fes den Mißgriff wieder gut zu machen suchen. Am 7. erschien die
Churfürstin in dem vollgedrängten Theater und wurde mit stürmi¬
schem Jubel empfangen. Nach der Vorstellung aber entstand Ge¬
dränge und das zur Aufrechterhaltung der Ruhe beorderte Militär
machte von den Waffen Gebrauch, nicht ohne Vorsicht, wie es heißt,
aber doch so, daß eine Anzahl von Personen verwundet und selbst
Jemand getödtet wurde. Der Polizeidirector, der die Anordnungen
für die Handhabung der Ordnung an diesem Abend getroffen hatte,
wurde seiner Stelle entsetzt und in Untersuchung gezogen, zugleich
aber mit einem Orden belohnt. Die Stimmung des Volkes blieb
daher fortwährend gereizt und der Argwohn der Masse beständig
wach. Jordan, der auch bei diesem Landtag die Landesuniversität


Grcnjboten, I8in. VI. 51
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[0401] lich bei der Besetzung einzelner Staatsämter, zumal der höchsten, nicht ganz ignoriren zu dürfen glaubte. Der eonstituirende Landtag war am 9. März beendet, und schon vier Wochen darauf am I I. April wurde der erste konstitutio¬ nelle Landtag eröffnet. Der Churfürst schien einen Augenblick ge¬ neigt, den Vorstellungen, daß seine Abwesenheit von Cassel die Er¬ ledigung der Landtagsgeschäste außerordentlich erschweren würde, und den vereinigten Bitten der Ständeversammlung und der Kasseler Bürger¬ schaft nachzugeben und in seine Residenz zurückzukehren, ließ sich aber durch die inzwischen nicht rastenden Demonstrationen der Volkserbit¬ terung gegen die Gräfin Reichenbach wieder davon abbringen und legte die Regierung für die Zeit seiner Abwesenheit ganz in die Hände des Churvrinzen, indem er sich selbst nur einige Schlösser, wie Hanau, Philippsruhe und die Einkünfte des Hausschatzes vor¬ behielt. Am 30. Sept. trat der Churprinz, auf den man jetzt die herrlichsten Hoffnungen baute, die Regentschaft an. Jedoch die Fa¬ milienverhältnisse des regierenden Hauses hörten auch jetzt nicht auf, den treuen Hessen Sorge und Noth zu bereiten. Die morganatische Ehe des Churprinzen ward Schuld an einem Zerwürfnis; mit seiner Mutter und die Spannung am Hofe verursachte kleinliche Neckereien, die sich sogar die Hofhaltung des Regenten gegen die Churfürstin herausnahm. Die Churfürstin fand am 3. December, als sie das Theater besuchen wollte, ihre Loge verschlossen, und mußte unverrich- teter Sache nach Hause zurückkehren. Die Stadt war in Aufruhr, als dieser Vorfall ruchbar wurde und man mußte Seitens des Ho¬ fes den Mißgriff wieder gut zu machen suchen. Am 7. erschien die Churfürstin in dem vollgedrängten Theater und wurde mit stürmi¬ schem Jubel empfangen. Nach der Vorstellung aber entstand Ge¬ dränge und das zur Aufrechterhaltung der Ruhe beorderte Militär machte von den Waffen Gebrauch, nicht ohne Vorsicht, wie es heißt, aber doch so, daß eine Anzahl von Personen verwundet und selbst Jemand getödtet wurde. Der Polizeidirector, der die Anordnungen für die Handhabung der Ordnung an diesem Abend getroffen hatte, wurde seiner Stelle entsetzt und in Untersuchung gezogen, zugleich aber mit einem Orden belohnt. Die Stimmung des Volkes blieb daher fortwährend gereizt und der Argwohn der Masse beständig wach. Jordan, der auch bei diesem Landtag die Landesuniversität Grcnjboten, I8in. VI. 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/401>, abgerufen am 05.02.2025.