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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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zwang Herrn Dobrcy"skv deutsch zu radebrechen. Herr Mendelssohn
ist schon kein halber Leipziger mehr, Herr Mendelssohn ist ein ganzer
Leipziger. Auf dem hiesigen Museum schrieb Jemand in das Wunsch¬
buch etwas in Betreff des Morning Chronicle und bediente sich dazu
der englischen Sprache. Der Vorstand schrieb daneben: in einer deut¬
schen Stadt spreche man deutsch. Bald darauf schrieb ein Franzose
eine Bemerkung in französischer Sprache in das Wunschbuch, und
flugs verwies ihn ein Abonnent des Museums auf jene Weisung
des Vorstands bei Ur. so und so: in einer deutschen Stadt spreche
man deutsch. O leipziger Patriotismus! O patriotisches Leipzig! --
Wir sollten doch wahrlich unsern Deutschheitsstolz lieber im Auslande
anbringen, wo wir uns gemeinlich wie die Ohrwürmer schmiegen,
und bei uns zu Hause den Fremden, weil wir ihre Wirthe und sie
unsere Gäste sind, es so bequem als möglich machen. Im Gallarock
draußen können wir den Katzenbuckel nicht krumm genug machen, und
daheim im Schlafrock sind wir -- biderbe Deutsche, d. h. sackgrob.
Ach Michel! Michel! wie fest und dick ist dir der Zopf gewachsen!
der gemüthliche deutsche Zopf.

Nun habe ich über Kunstkennerei und Leipziger Culturblüten
und Judenthum und deutschen Zopf noch immer nichts von Herrn
Dobrcynski's Musik gesagt. Mir hat von neuen musikalischen Er¬
zeugnissen lange nichts eine so vollständige Befriedigung, einen so
durchaus ungestörten Genuß verschafft, als Herrn Dobrcynski's Kom¬
positionen fast durchgängig. Doch -- daß ich gewissenhaft berichte
-- bei der Sinfonie characd-ristique war er nicht so durchaus unge¬
stört, wiewohl ohne Schuld der Composition. Ein unglücklicheres
Ausammentreffen von Schicksalsbosheitcn, die einen Künstler wohl
mögen zur Verzweiflung treiben können, ist kaum zu ersinnen. Das
Concert der Euterpe bestand aus zwei Theilen; im zweiten Theile
wurde Dobrcynski's Symphonie gegeben. Der erste Theil war sehr
-- gelind gesagt -- ermüdend: zwei lange Violinsoll von einem und
demselben Violinisten vorgetragen, das letztere Ernst's (^rnvv-et 6e
Vsnise -- eine Seiltanzerproduction, kein Musikstück -- drei oder
vier Lieder, oder, was weiß ich, Arien von einer und derselben dilet¬
tantischen Sopranstimme vorgetragen; im Saale eine Höllenhitze, mit
obligaten Luftstößen aus dem kalten Corrioore bei jeder Oessnung der
Eingangsthüre; endlich, zum Schlüsse des ersten Theiles, die Ouver¬
türe aus dem Freischützen. Die Ouvertüre aus dem Freischützen ist
eine schlimme Folie für ein anderes Stück, auf das man sich gespitzt
hat; überhaupt, wenn man ein Musikstück kennen lernen will, muß
man es allein hören. Dann, als die Sinfonie characteristique be¬
gonnen hatte, gleich im ersten Satze suchte sich die Clarinette ihre
eigenen Wege, und ist auch späterhin vom Abentheuern nicht ganz
wieder zurückgekommen. Und zu allem Ueberflusse gingen wahrend der


Grenzlwten, l"i!>. VI. 4g

zwang Herrn Dobrcy»skv deutsch zu radebrechen. Herr Mendelssohn
ist schon kein halber Leipziger mehr, Herr Mendelssohn ist ein ganzer
Leipziger. Auf dem hiesigen Museum schrieb Jemand in das Wunsch¬
buch etwas in Betreff des Morning Chronicle und bediente sich dazu
der englischen Sprache. Der Vorstand schrieb daneben: in einer deut¬
schen Stadt spreche man deutsch. Bald darauf schrieb ein Franzose
eine Bemerkung in französischer Sprache in das Wunschbuch, und
flugs verwies ihn ein Abonnent des Museums auf jene Weisung
des Vorstands bei Ur. so und so: in einer deutschen Stadt spreche
man deutsch. O leipziger Patriotismus! O patriotisches Leipzig! —
Wir sollten doch wahrlich unsern Deutschheitsstolz lieber im Auslande
anbringen, wo wir uns gemeinlich wie die Ohrwürmer schmiegen,
und bei uns zu Hause den Fremden, weil wir ihre Wirthe und sie
unsere Gäste sind, es so bequem als möglich machen. Im Gallarock
draußen können wir den Katzenbuckel nicht krumm genug machen, und
daheim im Schlafrock sind wir — biderbe Deutsche, d. h. sackgrob.
Ach Michel! Michel! wie fest und dick ist dir der Zopf gewachsen!
der gemüthliche deutsche Zopf.

Nun habe ich über Kunstkennerei und Leipziger Culturblüten
und Judenthum und deutschen Zopf noch immer nichts von Herrn
Dobrcynski's Musik gesagt. Mir hat von neuen musikalischen Er¬
zeugnissen lange nichts eine so vollständige Befriedigung, einen so
durchaus ungestörten Genuß verschafft, als Herrn Dobrcynski's Kom¬
positionen fast durchgängig. Doch — daß ich gewissenhaft berichte
— bei der Sinfonie characd-ristique war er nicht so durchaus unge¬
stört, wiewohl ohne Schuld der Composition. Ein unglücklicheres
Ausammentreffen von Schicksalsbosheitcn, die einen Künstler wohl
mögen zur Verzweiflung treiben können, ist kaum zu ersinnen. Das
Concert der Euterpe bestand aus zwei Theilen; im zweiten Theile
wurde Dobrcynski's Symphonie gegeben. Der erste Theil war sehr
— gelind gesagt — ermüdend: zwei lange Violinsoll von einem und
demselben Violinisten vorgetragen, das letztere Ernst's (^rnvv-et 6e
Vsnise — eine Seiltanzerproduction, kein Musikstück — drei oder
vier Lieder, oder, was weiß ich, Arien von einer und derselben dilet¬
tantischen Sopranstimme vorgetragen; im Saale eine Höllenhitze, mit
obligaten Luftstößen aus dem kalten Corrioore bei jeder Oessnung der
Eingangsthüre; endlich, zum Schlüsse des ersten Theiles, die Ouver¬
türe aus dem Freischützen. Die Ouvertüre aus dem Freischützen ist
eine schlimme Folie für ein anderes Stück, auf das man sich gespitzt
hat; überhaupt, wenn man ein Musikstück kennen lernen will, muß
man es allein hören. Dann, als die Sinfonie characteristique be¬
gonnen hatte, gleich im ersten Satze suchte sich die Clarinette ihre
eigenen Wege, und ist auch späterhin vom Abentheuern nicht ganz
wieder zurückgekommen. Und zu allem Ueberflusse gingen wahrend der


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[0377] zwang Herrn Dobrcy»skv deutsch zu radebrechen. Herr Mendelssohn ist schon kein halber Leipziger mehr, Herr Mendelssohn ist ein ganzer Leipziger. Auf dem hiesigen Museum schrieb Jemand in das Wunsch¬ buch etwas in Betreff des Morning Chronicle und bediente sich dazu der englischen Sprache. Der Vorstand schrieb daneben: in einer deut¬ schen Stadt spreche man deutsch. Bald darauf schrieb ein Franzose eine Bemerkung in französischer Sprache in das Wunschbuch, und flugs verwies ihn ein Abonnent des Museums auf jene Weisung des Vorstands bei Ur. so und so: in einer deutschen Stadt spreche man deutsch. O leipziger Patriotismus! O patriotisches Leipzig! — Wir sollten doch wahrlich unsern Deutschheitsstolz lieber im Auslande anbringen, wo wir uns gemeinlich wie die Ohrwürmer schmiegen, und bei uns zu Hause den Fremden, weil wir ihre Wirthe und sie unsere Gäste sind, es so bequem als möglich machen. Im Gallarock draußen können wir den Katzenbuckel nicht krumm genug machen, und daheim im Schlafrock sind wir — biderbe Deutsche, d. h. sackgrob. Ach Michel! Michel! wie fest und dick ist dir der Zopf gewachsen! der gemüthliche deutsche Zopf. Nun habe ich über Kunstkennerei und Leipziger Culturblüten und Judenthum und deutschen Zopf noch immer nichts von Herrn Dobrcynski's Musik gesagt. Mir hat von neuen musikalischen Er¬ zeugnissen lange nichts eine so vollständige Befriedigung, einen so durchaus ungestörten Genuß verschafft, als Herrn Dobrcynski's Kom¬ positionen fast durchgängig. Doch — daß ich gewissenhaft berichte — bei der Sinfonie characd-ristique war er nicht so durchaus unge¬ stört, wiewohl ohne Schuld der Composition. Ein unglücklicheres Ausammentreffen von Schicksalsbosheitcn, die einen Künstler wohl mögen zur Verzweiflung treiben können, ist kaum zu ersinnen. Das Concert der Euterpe bestand aus zwei Theilen; im zweiten Theile wurde Dobrcynski's Symphonie gegeben. Der erste Theil war sehr — gelind gesagt — ermüdend: zwei lange Violinsoll von einem und demselben Violinisten vorgetragen, das letztere Ernst's (^rnvv-et 6e Vsnise — eine Seiltanzerproduction, kein Musikstück — drei oder vier Lieder, oder, was weiß ich, Arien von einer und derselben dilet¬ tantischen Sopranstimme vorgetragen; im Saale eine Höllenhitze, mit obligaten Luftstößen aus dem kalten Corrioore bei jeder Oessnung der Eingangsthüre; endlich, zum Schlüsse des ersten Theiles, die Ouver¬ türe aus dem Freischützen. Die Ouvertüre aus dem Freischützen ist eine schlimme Folie für ein anderes Stück, auf das man sich gespitzt hat; überhaupt, wenn man ein Musikstück kennen lernen will, muß man es allein hören. Dann, als die Sinfonie characteristique be¬ gonnen hatte, gleich im ersten Satze suchte sich die Clarinette ihre eigenen Wege, und ist auch späterhin vom Abentheuern nicht ganz wieder zurückgekommen. Und zu allem Ueberflusse gingen wahrend der Grenzlwten, l«i!>. VI. 4g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/377>, abgerufen am 05.02.2025.