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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Nichten, Töchtern und Weibern wird man künftig durch electrische
Telegraphen zuvorkommen und, wenn sie an der ersehnten Station
angelangt sind, dieselben festhalten oder auch laufen lassen. Jüngst
ließ sich eine reizende und reiche Miß Villiers in Brighton von einem
charmanter und blutjungen Husarenofsizier entführen. Man erwartete
das Fräulein, das am Seegestade spazieren gegangen war, zum Di¬
ner um 5 Uhr Abends, indessen hatte sie ihren Shawl, den Arm
ihres Paladins und ein Eisenbahnbillet genommen; in 23 Stunden
-- man fahrt in England auch bei Nacht -- legten die Verliebten
400 englische Meilen zurück, ließen sich in Gretna-Green trauen und
flogen auf die Flitterwochen nach Edinburg. Merkwürdig ist, daß
auch die Großmutter von Miß Williers sich entführen ließ, -- als
sie jung war nämlich -- und ebenfalls in Gretna-Green ihre Hochzeit
feierte. Der Vater, ein Banquier, eilte mit Extrapost den Flüchtigen
nach und hatte ihren Wagen eingeholt, als der Entführer, Graf
Westmoreland, sich zum Kutschenschlag hinausbeugte und mit einem
wohlgezielten Pistolenschuß seinem künftigen Schwiegervater ein --
Pferd tödtete, so daß er den nöthigen Vorsprung gewann. Die Ent¬
führungslust scheint demnach in der Familie erblich.

-- Die Deutsche Allgau. hält uns eine schöne Predigt; sage
noch Einer, daß sie nicht mit der Zeit fortgehe! Sie predigt uns,
des Redens über Religion uns zu enthalten und statt dessen, nach
dem guten Vorbilde der guten mittleren Zeit, Kirchen zu bauen und
Geistliche zu bestatten. Unsere Zeit, sagt sie, möge allerdings reif
sein, sich über den alltäglichen Kirchenstrcit eine Meinung zu bilden;
aber was sei mit einer solchen Meinung gewonnen? Erst durch das
Leben erhalte die Religion Weihe. Durch das Leben! Und deswe¬
gen bauet Kirchen, sagt sie, und immer wieder Kirchen, und setzet
Geistliche und immer noch mehr Geistliche ein! Wir sind erbaut von
der schönen Predigt. Nur Schade, Schade, daß wir grade so ver¬
dammt viel Geld zum Bau von Eisenbahnen nöthig haben.

-- Ein Tag aus der böhmischen Geschichte (Lpz.Grunow)
ist der Titel einer für die Detailgeschichte Böhmens wichtigen Bro-
chüre, welche soeben die Presse verlassen hat. Der anonyme Heraus¬
geber skizzirt in einem einleitenden Artikel die Zustände Böhmens in
den Jahren I6!8--1620 bis zur Schlacht am weißen Berge. "Die
Zeit, die aus die Schlacht am weißen Berge und auf die Einnahme
Prags folgte," fährt er dann fort, "ist bekannt genug :c." "An¬
fangs schien alles ruhig und sah es aus, als ob der Kaiser sich mit
der Unterwerfung des Landes begnügen wollte, einige Monate ver¬
flossen ruhig, und hoffnungsvoll athmeten die Böhmen wieder auf,
und die Geflüchteten und Verborgenen kamen voll Vertrauen wieder


Nichten, Töchtern und Weibern wird man künftig durch electrische
Telegraphen zuvorkommen und, wenn sie an der ersehnten Station
angelangt sind, dieselben festhalten oder auch laufen lassen. Jüngst
ließ sich eine reizende und reiche Miß Villiers in Brighton von einem
charmanter und blutjungen Husarenofsizier entführen. Man erwartete
das Fräulein, das am Seegestade spazieren gegangen war, zum Di¬
ner um 5 Uhr Abends, indessen hatte sie ihren Shawl, den Arm
ihres Paladins und ein Eisenbahnbillet genommen; in 23 Stunden
— man fahrt in England auch bei Nacht — legten die Verliebten
400 englische Meilen zurück, ließen sich in Gretna-Green trauen und
flogen auf die Flitterwochen nach Edinburg. Merkwürdig ist, daß
auch die Großmutter von Miß Williers sich entführen ließ, — als
sie jung war nämlich — und ebenfalls in Gretna-Green ihre Hochzeit
feierte. Der Vater, ein Banquier, eilte mit Extrapost den Flüchtigen
nach und hatte ihren Wagen eingeholt, als der Entführer, Graf
Westmoreland, sich zum Kutschenschlag hinausbeugte und mit einem
wohlgezielten Pistolenschuß seinem künftigen Schwiegervater ein —
Pferd tödtete, so daß er den nöthigen Vorsprung gewann. Die Ent¬
führungslust scheint demnach in der Familie erblich.

— Die Deutsche Allgau. hält uns eine schöne Predigt; sage
noch Einer, daß sie nicht mit der Zeit fortgehe! Sie predigt uns,
des Redens über Religion uns zu enthalten und statt dessen, nach
dem guten Vorbilde der guten mittleren Zeit, Kirchen zu bauen und
Geistliche zu bestatten. Unsere Zeit, sagt sie, möge allerdings reif
sein, sich über den alltäglichen Kirchenstrcit eine Meinung zu bilden;
aber was sei mit einer solchen Meinung gewonnen? Erst durch das
Leben erhalte die Religion Weihe. Durch das Leben! Und deswe¬
gen bauet Kirchen, sagt sie, und immer wieder Kirchen, und setzet
Geistliche und immer noch mehr Geistliche ein! Wir sind erbaut von
der schönen Predigt. Nur Schade, Schade, daß wir grade so ver¬
dammt viel Geld zum Bau von Eisenbahnen nöthig haben.

— Ein Tag aus der böhmischen Geschichte (Lpz.Grunow)
ist der Titel einer für die Detailgeschichte Böhmens wichtigen Bro-
chüre, welche soeben die Presse verlassen hat. Der anonyme Heraus¬
geber skizzirt in einem einleitenden Artikel die Zustände Böhmens in
den Jahren I6!8—1620 bis zur Schlacht am weißen Berge. „Die
Zeit, die aus die Schlacht am weißen Berge und auf die Einnahme
Prags folgte," fährt er dann fort, „ist bekannt genug :c." „An¬
fangs schien alles ruhig und sah es aus, als ob der Kaiser sich mit
der Unterwerfung des Landes begnügen wollte, einige Monate ver¬
flossen ruhig, und hoffnungsvoll athmeten die Böhmen wieder auf,
und die Geflüchteten und Verborgenen kamen voll Vertrauen wieder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/334>, abgerufen am 05.02.2025.