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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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wieder auf der andern Seite nicht den Argwohn zu unterdrücken, daß
sich hier, wie so oft, die Unfähigkeit oder doch die banale Mittelmä¬
ßigkeit hinter der bequemen und verantwortungsfreien Anonymität ver¬
hüllen möge. Nicht unbefangen bin ich darum an die Lesung dieses
Buchs gegangen, nicht selten überraschte mich bei deren Beginn sogar
der Gedanke, wie hier vielleicht nur eine aus einer Menge von Lec-
türe zusammengetragene Arbeit, vielleicht sogar nur eine Bearbeitung
eines englischen Originals geboten sei. Aber je weiter ich vordrang,
desto mehr traten diese Voreingenommenheiten in den Hintergrund zu¬
rück, und am Ende angekommen, muß ich diesen Roman als ein Er¬
gebniß nicht unbedeutender Befähigung, wenn auch wahrscheinlich als
erstes Product eines literarischen Dilettanten anerkennen. Allein mit
dem Titel muß ich auch fort und fort rechten. Man erkennt nirgends
einen Grund dafür, zu welchen höhern Zwecken und Absichten des
Jesuitenordens die Diener und Leiter desselben gegen den Haupthelden
der Erzählung die tausendgestaltigen Mittel ersinnen, einschlagen, ein¬
schlagen lassen und verfolgen, durch welche dieser in dessen Schlingen
gelockt wird. Konnten sich alle Verwickelungen der in ihrem Detail
wirklich außerordentlich lebensvollen und lebenswahren Erzählung nicht
viel natürlicher und ungezwungener, auf die ebcfalls gegebenen sociale"
und familienhaften Verhältnisse basiren, als auf ein herbeigezwunge¬
nes fort und fort plump eingreifendes Jesuitenwirkcn? Die ganze
Production würde damit einen widrigen Anstrich von pitavalischer Ro¬
mantik und Bigilantenpoesie, wie sie ihn jetzt hat, verlieren. Es würde
aber allerdings auch zu Motivirung ihrer einzelnen Wendungen weit
größerer psychologischer Begründungsschärfe und romantischer Schöp¬
fungskraft bedürfen, wenn, anstatt daß jetzt der Jesuitismus und die
Jesuitencorporation immer im entscheidenden Momente als "Ivi ox nu-
cum-l auftreten, die einzelnen Situationen aus sich selbst durch orga¬
nische Nothwendigkeit entwickelt würden. Damit würde allerdings auch
der ganze vorhandene Organismus des Romans aufgegeben werden
müssen. Aber sicherlich würde dessen Kern dadurch an eigentlichem
ästhetischen Kunstwerth nur gewinnen, wenn schon vielleicht für einen
gewissen Leserkreis dessen Verarbeitung an prickelnden Reize verlöre.
Dies bei einer neuen Production zu berücksichtigen, und sich nicht
durch etwaigen Erfolg in gewissen Zirkeln zu einem einseitigen Ver¬
tiefen in derartige, weil eben ihrer Wesenheit nach unbekannte, darum
so leicht für romantische Staffage anwendbare Schreckanstalten der
heutigen Gesellschaft hinreißen zu lassen, dies ist sonach die nächste
Aufgabe des mit gefälliger Darstellungsgabe ausgerüsteten und -- wie
es scheint -- mit leichtbeweglicher Erfindung begabten Verfassers. Um
aber nicht nur den Tadel wirklich ausgesprochen, und das Lob nur
angedeutet zu haben, muß die Schönheit des Sloth, sowie eine glück-
liche Auffassung der Localfärbung und eine strengwahre Malerei der


wieder auf der andern Seite nicht den Argwohn zu unterdrücken, daß
sich hier, wie so oft, die Unfähigkeit oder doch die banale Mittelmä¬
ßigkeit hinter der bequemen und verantwortungsfreien Anonymität ver¬
hüllen möge. Nicht unbefangen bin ich darum an die Lesung dieses
Buchs gegangen, nicht selten überraschte mich bei deren Beginn sogar
der Gedanke, wie hier vielleicht nur eine aus einer Menge von Lec-
türe zusammengetragene Arbeit, vielleicht sogar nur eine Bearbeitung
eines englischen Originals geboten sei. Aber je weiter ich vordrang,
desto mehr traten diese Voreingenommenheiten in den Hintergrund zu¬
rück, und am Ende angekommen, muß ich diesen Roman als ein Er¬
gebniß nicht unbedeutender Befähigung, wenn auch wahrscheinlich als
erstes Product eines literarischen Dilettanten anerkennen. Allein mit
dem Titel muß ich auch fort und fort rechten. Man erkennt nirgends
einen Grund dafür, zu welchen höhern Zwecken und Absichten des
Jesuitenordens die Diener und Leiter desselben gegen den Haupthelden
der Erzählung die tausendgestaltigen Mittel ersinnen, einschlagen, ein¬
schlagen lassen und verfolgen, durch welche dieser in dessen Schlingen
gelockt wird. Konnten sich alle Verwickelungen der in ihrem Detail
wirklich außerordentlich lebensvollen und lebenswahren Erzählung nicht
viel natürlicher und ungezwungener, auf die ebcfalls gegebenen sociale»
und familienhaften Verhältnisse basiren, als auf ein herbeigezwunge¬
nes fort und fort plump eingreifendes Jesuitenwirkcn? Die ganze
Production würde damit einen widrigen Anstrich von pitavalischer Ro¬
mantik und Bigilantenpoesie, wie sie ihn jetzt hat, verlieren. Es würde
aber allerdings auch zu Motivirung ihrer einzelnen Wendungen weit
größerer psychologischer Begründungsschärfe und romantischer Schöp¬
fungskraft bedürfen, wenn, anstatt daß jetzt der Jesuitismus und die
Jesuitencorporation immer im entscheidenden Momente als «Ivi ox nu-
cum-l auftreten, die einzelnen Situationen aus sich selbst durch orga¬
nische Nothwendigkeit entwickelt würden. Damit würde allerdings auch
der ganze vorhandene Organismus des Romans aufgegeben werden
müssen. Aber sicherlich würde dessen Kern dadurch an eigentlichem
ästhetischen Kunstwerth nur gewinnen, wenn schon vielleicht für einen
gewissen Leserkreis dessen Verarbeitung an prickelnden Reize verlöre.
Dies bei einer neuen Production zu berücksichtigen, und sich nicht
durch etwaigen Erfolg in gewissen Zirkeln zu einem einseitigen Ver¬
tiefen in derartige, weil eben ihrer Wesenheit nach unbekannte, darum
so leicht für romantische Staffage anwendbare Schreckanstalten der
heutigen Gesellschaft hinreißen zu lassen, dies ist sonach die nächste
Aufgabe des mit gefälliger Darstellungsgabe ausgerüsteten und — wie
es scheint — mit leichtbeweglicher Erfindung begabten Verfassers. Um
aber nicht nur den Tadel wirklich ausgesprochen, und das Lob nur
angedeutet zu haben, muß die Schönheit des Sloth, sowie eine glück-
liche Auffassung der Localfärbung und eine strengwahre Malerei der


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[0321] wieder auf der andern Seite nicht den Argwohn zu unterdrücken, daß sich hier, wie so oft, die Unfähigkeit oder doch die banale Mittelmä¬ ßigkeit hinter der bequemen und verantwortungsfreien Anonymität ver¬ hüllen möge. Nicht unbefangen bin ich darum an die Lesung dieses Buchs gegangen, nicht selten überraschte mich bei deren Beginn sogar der Gedanke, wie hier vielleicht nur eine aus einer Menge von Lec- türe zusammengetragene Arbeit, vielleicht sogar nur eine Bearbeitung eines englischen Originals geboten sei. Aber je weiter ich vordrang, desto mehr traten diese Voreingenommenheiten in den Hintergrund zu¬ rück, und am Ende angekommen, muß ich diesen Roman als ein Er¬ gebniß nicht unbedeutender Befähigung, wenn auch wahrscheinlich als erstes Product eines literarischen Dilettanten anerkennen. Allein mit dem Titel muß ich auch fort und fort rechten. Man erkennt nirgends einen Grund dafür, zu welchen höhern Zwecken und Absichten des Jesuitenordens die Diener und Leiter desselben gegen den Haupthelden der Erzählung die tausendgestaltigen Mittel ersinnen, einschlagen, ein¬ schlagen lassen und verfolgen, durch welche dieser in dessen Schlingen gelockt wird. Konnten sich alle Verwickelungen der in ihrem Detail wirklich außerordentlich lebensvollen und lebenswahren Erzählung nicht viel natürlicher und ungezwungener, auf die ebcfalls gegebenen sociale» und familienhaften Verhältnisse basiren, als auf ein herbeigezwunge¬ nes fort und fort plump eingreifendes Jesuitenwirkcn? Die ganze Production würde damit einen widrigen Anstrich von pitavalischer Ro¬ mantik und Bigilantenpoesie, wie sie ihn jetzt hat, verlieren. Es würde aber allerdings auch zu Motivirung ihrer einzelnen Wendungen weit größerer psychologischer Begründungsschärfe und romantischer Schöp¬ fungskraft bedürfen, wenn, anstatt daß jetzt der Jesuitismus und die Jesuitencorporation immer im entscheidenden Momente als «Ivi ox nu- cum-l auftreten, die einzelnen Situationen aus sich selbst durch orga¬ nische Nothwendigkeit entwickelt würden. Damit würde allerdings auch der ganze vorhandene Organismus des Romans aufgegeben werden müssen. Aber sicherlich würde dessen Kern dadurch an eigentlichem ästhetischen Kunstwerth nur gewinnen, wenn schon vielleicht für einen gewissen Leserkreis dessen Verarbeitung an prickelnden Reize verlöre. Dies bei einer neuen Production zu berücksichtigen, und sich nicht durch etwaigen Erfolg in gewissen Zirkeln zu einem einseitigen Ver¬ tiefen in derartige, weil eben ihrer Wesenheit nach unbekannte, darum so leicht für romantische Staffage anwendbare Schreckanstalten der heutigen Gesellschaft hinreißen zu lassen, dies ist sonach die nächste Aufgabe des mit gefälliger Darstellungsgabe ausgerüsteten und — wie es scheint — mit leichtbeweglicher Erfindung begabten Verfassers. Um aber nicht nur den Tadel wirklich ausgesprochen, und das Lob nur angedeutet zu haben, muß die Schönheit des Sloth, sowie eine glück- liche Auffassung der Localfärbung und eine strengwahre Malerei der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/321>, abgerufen am 05.02.2025.