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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Menschen nicht zu Fleisch und Blut, zu lieben Freunden oder geha߬
ten Feinden werden, daß man keinen vollen und ganzen Eindruck mit
von der Lectüre hinwegnimmt. Der Geschichtskundige wird die Stu¬
dien des Verf. anerkennen und darum das romantische Beiwerk weg¬
wünschen, um für seine Anschauungsweise etwas Ganzes und Ge¬
schlossenes zu besitzen; der Nomanlcser wird wieder das Geschichtswerk
unnöthig erachten, ihm wäre das alleinige romantische Beiwerk lieber.
Denn eben die Verschmelzung fehlt, welche das eine ohne das andere
ganz unmöglich erscheinen läßt, und darum konnte kein volles, orga¬
nisches Kunstwerk entstehen.

Aus diesen, unserem Interesse so fern liegenden Zeiten und Ver¬
hältnissen, denen nur ein sehr künstlicher Mechanismus die Anerkennt-
niß gewisser Ähnlichkeiten mit und gewisser Bezüge zu unserer Ge¬
genwart hätte erringen können, reißt uns Ernst Willkomm's be¬
reits vielgenannter Roman "Weiße Sclaven oder die Leiden
des Volkes" inmitten der Miszustände einer kaum verflossenen Le¬
bensperiode eines großen Theiles unserer heutigen Generation, Mis¬
zustände, deren Folgekrankheiten eben durch die Gestaltungen der socialen
Zustände von heut vielleicht einer nicht minder erschreckenden Ent¬
wickelung entgegengehen, als jene frühere war. Willkomm verknüpft
die Leiden der leibeignen Zeit des wendischen Volkes in der Lausitz
mit der Schilderung der heut lebenden Proletarier. Ein Bild voll
des entsetzlichsten Elends und erleuchtet von den düster glühenden
Fackeln der wühlendsten Leidenschaften des Geizes und der Habsucht
auf der einen, des durch Hunger und moralische, wie physische Mis-
handlung auf der andern Seite angefachten Hasses enthüllt sich vor
unserm Blick. Nach den mancherlei Besprechungen, welche dieses
Buch bereits in critischer, wie publicistischer Hinsicht gefunden, würde
es jedoch überflüssig sein, hier nochmals den vielfach verschlungenen
Eczählungsgang entwickeln zu wollen. Ueberdies liegt ja auch nur
ein Bruchstück vor, dessen Abschluß uns -- wie bereits die Zeitungen
meldeten -- Bchordcnstrcnge noch vorenthält. Es bleibt demnach nichts
übrig, als einzelne Momente des Vorhandenen erwähnend hervorzu¬
heben und für eine spätere Zeit die organische Besprechung des Gan¬
zen zu verspäten. Eine gewisse innere Verwandtschaft der vorliegen¬
den Erzählung mit den aus der Neuzeit als organische Nothwendig¬
keit vorliegenden Mysterien liegt im aufgefaßten Stoffe begründet.
Aber während sich dort -- selbst in deren Pariser Vorbild -- keine
naturgemäße und organische Lösung der geschilderten Zustande ent¬
wickelt, drängt sich diese hier aus den Gestaltungen und Wandlungen
des Lebens der auftretenden Proletariermassen wie eine blutroth über
unserm Horizonte schwebende Wolke hervor. Aber auch für solche
Auffassung fehlt dem Leser noch die Bestätigung durch den vorent¬
haltenen vierten Band. Indessen läßt sich vor der Hand eine Ver-


40*

Menschen nicht zu Fleisch und Blut, zu lieben Freunden oder geha߬
ten Feinden werden, daß man keinen vollen und ganzen Eindruck mit
von der Lectüre hinwegnimmt. Der Geschichtskundige wird die Stu¬
dien des Verf. anerkennen und darum das romantische Beiwerk weg¬
wünschen, um für seine Anschauungsweise etwas Ganzes und Ge¬
schlossenes zu besitzen; der Nomanlcser wird wieder das Geschichtswerk
unnöthig erachten, ihm wäre das alleinige romantische Beiwerk lieber.
Denn eben die Verschmelzung fehlt, welche das eine ohne das andere
ganz unmöglich erscheinen läßt, und darum konnte kein volles, orga¬
nisches Kunstwerk entstehen.

Aus diesen, unserem Interesse so fern liegenden Zeiten und Ver¬
hältnissen, denen nur ein sehr künstlicher Mechanismus die Anerkennt-
niß gewisser Ähnlichkeiten mit und gewisser Bezüge zu unserer Ge¬
genwart hätte erringen können, reißt uns Ernst Willkomm's be¬
reits vielgenannter Roman „Weiße Sclaven oder die Leiden
des Volkes" inmitten der Miszustände einer kaum verflossenen Le¬
bensperiode eines großen Theiles unserer heutigen Generation, Mis¬
zustände, deren Folgekrankheiten eben durch die Gestaltungen der socialen
Zustände von heut vielleicht einer nicht minder erschreckenden Ent¬
wickelung entgegengehen, als jene frühere war. Willkomm verknüpft
die Leiden der leibeignen Zeit des wendischen Volkes in der Lausitz
mit der Schilderung der heut lebenden Proletarier. Ein Bild voll
des entsetzlichsten Elends und erleuchtet von den düster glühenden
Fackeln der wühlendsten Leidenschaften des Geizes und der Habsucht
auf der einen, des durch Hunger und moralische, wie physische Mis-
handlung auf der andern Seite angefachten Hasses enthüllt sich vor
unserm Blick. Nach den mancherlei Besprechungen, welche dieses
Buch bereits in critischer, wie publicistischer Hinsicht gefunden, würde
es jedoch überflüssig sein, hier nochmals den vielfach verschlungenen
Eczählungsgang entwickeln zu wollen. Ueberdies liegt ja auch nur
ein Bruchstück vor, dessen Abschluß uns — wie bereits die Zeitungen
meldeten — Bchordcnstrcnge noch vorenthält. Es bleibt demnach nichts
übrig, als einzelne Momente des Vorhandenen erwähnend hervorzu¬
heben und für eine spätere Zeit die organische Besprechung des Gan¬
zen zu verspäten. Eine gewisse innere Verwandtschaft der vorliegen¬
den Erzählung mit den aus der Neuzeit als organische Nothwendig¬
keit vorliegenden Mysterien liegt im aufgefaßten Stoffe begründet.
Aber während sich dort — selbst in deren Pariser Vorbild — keine
naturgemäße und organische Lösung der geschilderten Zustande ent¬
wickelt, drängt sich diese hier aus den Gestaltungen und Wandlungen
des Lebens der auftretenden Proletariermassen wie eine blutroth über
unserm Horizonte schwebende Wolke hervor. Aber auch für solche
Auffassung fehlt dem Leser noch die Bestätigung durch den vorent¬
haltenen vierten Band. Indessen läßt sich vor der Hand eine Ver-


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[0319] Menschen nicht zu Fleisch und Blut, zu lieben Freunden oder geha߬ ten Feinden werden, daß man keinen vollen und ganzen Eindruck mit von der Lectüre hinwegnimmt. Der Geschichtskundige wird die Stu¬ dien des Verf. anerkennen und darum das romantische Beiwerk weg¬ wünschen, um für seine Anschauungsweise etwas Ganzes und Ge¬ schlossenes zu besitzen; der Nomanlcser wird wieder das Geschichtswerk unnöthig erachten, ihm wäre das alleinige romantische Beiwerk lieber. Denn eben die Verschmelzung fehlt, welche das eine ohne das andere ganz unmöglich erscheinen läßt, und darum konnte kein volles, orga¬ nisches Kunstwerk entstehen. Aus diesen, unserem Interesse so fern liegenden Zeiten und Ver¬ hältnissen, denen nur ein sehr künstlicher Mechanismus die Anerkennt- niß gewisser Ähnlichkeiten mit und gewisser Bezüge zu unserer Ge¬ genwart hätte erringen können, reißt uns Ernst Willkomm's be¬ reits vielgenannter Roman „Weiße Sclaven oder die Leiden des Volkes" inmitten der Miszustände einer kaum verflossenen Le¬ bensperiode eines großen Theiles unserer heutigen Generation, Mis¬ zustände, deren Folgekrankheiten eben durch die Gestaltungen der socialen Zustände von heut vielleicht einer nicht minder erschreckenden Ent¬ wickelung entgegengehen, als jene frühere war. Willkomm verknüpft die Leiden der leibeignen Zeit des wendischen Volkes in der Lausitz mit der Schilderung der heut lebenden Proletarier. Ein Bild voll des entsetzlichsten Elends und erleuchtet von den düster glühenden Fackeln der wühlendsten Leidenschaften des Geizes und der Habsucht auf der einen, des durch Hunger und moralische, wie physische Mis- handlung auf der andern Seite angefachten Hasses enthüllt sich vor unserm Blick. Nach den mancherlei Besprechungen, welche dieses Buch bereits in critischer, wie publicistischer Hinsicht gefunden, würde es jedoch überflüssig sein, hier nochmals den vielfach verschlungenen Eczählungsgang entwickeln zu wollen. Ueberdies liegt ja auch nur ein Bruchstück vor, dessen Abschluß uns — wie bereits die Zeitungen meldeten — Bchordcnstrcnge noch vorenthält. Es bleibt demnach nichts übrig, als einzelne Momente des Vorhandenen erwähnend hervorzu¬ heben und für eine spätere Zeit die organische Besprechung des Gan¬ zen zu verspäten. Eine gewisse innere Verwandtschaft der vorliegen¬ den Erzählung mit den aus der Neuzeit als organische Nothwendig¬ keit vorliegenden Mysterien liegt im aufgefaßten Stoffe begründet. Aber während sich dort — selbst in deren Pariser Vorbild — keine naturgemäße und organische Lösung der geschilderten Zustande ent¬ wickelt, drängt sich diese hier aus den Gestaltungen und Wandlungen des Lebens der auftretenden Proletariermassen wie eine blutroth über unserm Horizonte schwebende Wolke hervor. Aber auch für solche Auffassung fehlt dem Leser noch die Bestätigung durch den vorent¬ haltenen vierten Band. Indessen läßt sich vor der Hand eine Ver- 40*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/319>, abgerufen am 05.02.2025.