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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Tribüne war für ihn ein Lehrstuhl, auf welchen er als Lehrer des
Gesetzes trat. Als Redner merkte man ihm den Theoretiker an. Er
sprach selten aus dem Stegreife. Seine gewöhnliche Art und Weise
bestand darin, zuerst einen Satz als Arion hinzustellen, um aus
demselben dann eine Reihe strenger Folgerungen zu entwickeln. Hier
ist eine kurze Anrede, welche er im Jahre 1816 an die Wähler von
Marne hielt und welche seine Art und Weise ziemlich genau bezeichnet:

"Der König ist die Gesetzlichkeit, die Gesetzlichkeit ist die Ord¬
nung, die Ordnung ist die Ruhe, Ruhe verschafft und erhält man
sich durch Mäßigung, jene ausgezeichnete Tugend, welche die Politik
von der Moral entlehnt; die Mäßigung, ein natürliches Attribut der
Gesetzlichkeit, bildet also das unterscheidende Charaktermerkmal der
Wahren Freunde des Königs und Frankreichs."

Man erweitere in Gedanken diesen Syllogismus, so daß er
eine schöne Rede in sich faßt, und man hat den ganzen Noyer-
Collard, welcher diese dogmatische Form nie aufgibt.

Es scheint auf den ersten Anblick, daß eine in ihrer Auseinan¬
dersetzung wie ein Theorem geordnete Politik sich durch den Geist
der Folgerichtigkeit auszeichnen, sich zu allen Zeiten gleich bleiben
und nie einen Widerspruch in sich schließen müsse. Dies war keines¬
wegs der Fall und ich kenne kein schlagenderes Beispiel für die
Nichtigkeit der Systeme gegenüber den Leidenschaften und den That¬
sachen, als eine Sammlung der bedeutenderen Reden, welche Royer-
Collard in einem Zeitraume von fünfzehn Jahren gesprochen hat.
Jede dieser Reden für sich selbst betrachtet, ist ein logisches Meister¬
stück, jede derselben ist vom Anfange bis zum Ende nur ein beredt-
samer Syllogismus. Man nehme nun alle diese Syllogismen, man
vergleiche sie mit einander, und man wird die ungeheuersten Wider¬
sprüche finden, welche um so schlagender sind, als sie strenge aus
ganz entgegengesetzten Formeln abgeleitet sind. Vom Anfange bis
zum Ende der Restauration schwankte Royer-Collard zwischen zwei
Prinzipen, welche er gleichmäßig liebt: zwischen der Gesetzlichkeit und
der Freiheit. Er hat immer diese beiden Prinzipe, gleich feststehende
Ansichten; er gibt nicht einen Augenblick zu, daß das eine ohne das
andere bestehen könne, und er vertheidigt der Reihe nach jedes der¬
selben mit Ariomen, welche sich gegenseitig aufheben.

Als MetaPhysiker hatte sich Royer-Collard damit beschäftigt, die


Tribüne war für ihn ein Lehrstuhl, auf welchen er als Lehrer des
Gesetzes trat. Als Redner merkte man ihm den Theoretiker an. Er
sprach selten aus dem Stegreife. Seine gewöhnliche Art und Weise
bestand darin, zuerst einen Satz als Arion hinzustellen, um aus
demselben dann eine Reihe strenger Folgerungen zu entwickeln. Hier
ist eine kurze Anrede, welche er im Jahre 1816 an die Wähler von
Marne hielt und welche seine Art und Weise ziemlich genau bezeichnet:

„Der König ist die Gesetzlichkeit, die Gesetzlichkeit ist die Ord¬
nung, die Ordnung ist die Ruhe, Ruhe verschafft und erhält man
sich durch Mäßigung, jene ausgezeichnete Tugend, welche die Politik
von der Moral entlehnt; die Mäßigung, ein natürliches Attribut der
Gesetzlichkeit, bildet also das unterscheidende Charaktermerkmal der
Wahren Freunde des Königs und Frankreichs."

Man erweitere in Gedanken diesen Syllogismus, so daß er
eine schöne Rede in sich faßt, und man hat den ganzen Noyer-
Collard, welcher diese dogmatische Form nie aufgibt.

Es scheint auf den ersten Anblick, daß eine in ihrer Auseinan¬
dersetzung wie ein Theorem geordnete Politik sich durch den Geist
der Folgerichtigkeit auszeichnen, sich zu allen Zeiten gleich bleiben
und nie einen Widerspruch in sich schließen müsse. Dies war keines¬
wegs der Fall und ich kenne kein schlagenderes Beispiel für die
Nichtigkeit der Systeme gegenüber den Leidenschaften und den That¬
sachen, als eine Sammlung der bedeutenderen Reden, welche Royer-
Collard in einem Zeitraume von fünfzehn Jahren gesprochen hat.
Jede dieser Reden für sich selbst betrachtet, ist ein logisches Meister¬
stück, jede derselben ist vom Anfange bis zum Ende nur ein beredt-
samer Syllogismus. Man nehme nun alle diese Syllogismen, man
vergleiche sie mit einander, und man wird die ungeheuersten Wider¬
sprüche finden, welche um so schlagender sind, als sie strenge aus
ganz entgegengesetzten Formeln abgeleitet sind. Vom Anfange bis
zum Ende der Restauration schwankte Royer-Collard zwischen zwei
Prinzipen, welche er gleichmäßig liebt: zwischen der Gesetzlichkeit und
der Freiheit. Er hat immer diese beiden Prinzipe, gleich feststehende
Ansichten; er gibt nicht einen Augenblick zu, daß das eine ohne das
andere bestehen könne, und er vertheidigt der Reihe nach jedes der¬
selben mit Ariomen, welche sich gegenseitig aufheben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/29>, abgerufen am 05.02.2025.