Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

senkten Hauptes bewegt sich der Zug unter Begleitung eines Vor¬
gesetzten hinaus. Ebenso kehrt er wieder zurück. -- Das Abendessen
und die darauf folgende Unterhaltung hat ganz den mittägigen Cha¬
rakter. Nach diesem folgt die halbstündige Vorbereitung zur Ascetik
des kommenden Tages, hierauf eine Viertelstunde Gewissenserfor-
schung unter Reu und Leid, dann zum Schluß eine Viertelstunde
Nachtgebet. Fünf Minuten nachher müssen die Lichter ausgelöscht,
und die Zöglinge zu Bett sein.

Zur pünktlichen Befolgung dieser Tagesordnung, welche durch
die ganze Studienzeit (mit ganz unbedeutenden Aenderungen) dieselbe
bleibt, besteht öffentliche und geheime Ueberwachung. Der Zögling
ist keine Minute des Tages sicher, von einer Controlle überrascht und
geprüft zu werden. Daß jeden Sonnabend Beichte ist, und jeder
Sonn- und Festtag unbedingt nur dem Kirchendienst und doppelten
ascetischen Uebungen gewidmet werden darf, versteht sich von selbst.
An Ablaßtagen findet die Beichte sogar öfter auch unter der Woche
statt. Ueberdies ist jeden Monat öffentliche Sittencensur. Hier ta¬
delt der Präfekt oder Pedell in einer an die Alumnen gehaltenen
Rede, was ihm TadelnSiverthes erschienen, und lies't den Manu-
ductor vor. Letzterer enthält alle Verhaltungsregeln der Zöglinge
innerhalb und außerhalb des Hauses. Zu Ostern und Michaelis
hält der Necror selbst Kelormittio, d. h. er spricht in einer lan¬
gen Abhandlung nach den Resultaten der bereits geschilderten gehei¬
men Polizei öffentliches Urtheil über seine Kinder.

Außer den täglichen zwei Unterhaltungen (reale"lion<?8) im
Porticus herrscht im Colleg das ganze Jahr tiefstes Stillschweigen.
Keiner darf jemals des Andern Zelle betreten, und nur in höchst
wichtigen Fällen mit besonderer Erlaubniß des PräfectS vor dessen
Thüre wenige Worte wechseln. Eingelaufene Briefe werden vom
Rector geöffnet und zuerst gelesen, abzusendende müssen offen in die
Hände des NeklorS gelegt werden.

Jeder Umgang mit der Außenwelt, selbst mit der geistlichen, ist
abgeschnitten. Nur im dringendsten Nothfall öffnet sich dem Alum¬
nen die Pforte des Klosters. Er darf sie aber nie allein überschrei¬
ten! Ihm wird ein Begleiter von dem Rector Landes, ein zwei¬
ter vom Pater Minister Delacroir beigesellt. Diesem ist's streng
geboten, keinen Schritt von seiner Seite zu weichen. Nach der


senkten Hauptes bewegt sich der Zug unter Begleitung eines Vor¬
gesetzten hinaus. Ebenso kehrt er wieder zurück. — Das Abendessen
und die darauf folgende Unterhaltung hat ganz den mittägigen Cha¬
rakter. Nach diesem folgt die halbstündige Vorbereitung zur Ascetik
des kommenden Tages, hierauf eine Viertelstunde Gewissenserfor-
schung unter Reu und Leid, dann zum Schluß eine Viertelstunde
Nachtgebet. Fünf Minuten nachher müssen die Lichter ausgelöscht,
und die Zöglinge zu Bett sein.

Zur pünktlichen Befolgung dieser Tagesordnung, welche durch
die ganze Studienzeit (mit ganz unbedeutenden Aenderungen) dieselbe
bleibt, besteht öffentliche und geheime Ueberwachung. Der Zögling
ist keine Minute des Tages sicher, von einer Controlle überrascht und
geprüft zu werden. Daß jeden Sonnabend Beichte ist, und jeder
Sonn- und Festtag unbedingt nur dem Kirchendienst und doppelten
ascetischen Uebungen gewidmet werden darf, versteht sich von selbst.
An Ablaßtagen findet die Beichte sogar öfter auch unter der Woche
statt. Ueberdies ist jeden Monat öffentliche Sittencensur. Hier ta¬
delt der Präfekt oder Pedell in einer an die Alumnen gehaltenen
Rede, was ihm TadelnSiverthes erschienen, und lies't den Manu-
ductor vor. Letzterer enthält alle Verhaltungsregeln der Zöglinge
innerhalb und außerhalb des Hauses. Zu Ostern und Michaelis
hält der Necror selbst Kelormittio, d. h. er spricht in einer lan¬
gen Abhandlung nach den Resultaten der bereits geschilderten gehei¬
men Polizei öffentliches Urtheil über seine Kinder.

Außer den täglichen zwei Unterhaltungen (reale»lion<?8) im
Porticus herrscht im Colleg das ganze Jahr tiefstes Stillschweigen.
Keiner darf jemals des Andern Zelle betreten, und nur in höchst
wichtigen Fällen mit besonderer Erlaubniß des PräfectS vor dessen
Thüre wenige Worte wechseln. Eingelaufene Briefe werden vom
Rector geöffnet und zuerst gelesen, abzusendende müssen offen in die
Hände des NeklorS gelegt werden.

Jeder Umgang mit der Außenwelt, selbst mit der geistlichen, ist
abgeschnitten. Nur im dringendsten Nothfall öffnet sich dem Alum¬
nen die Pforte des Klosters. Er darf sie aber nie allein überschrei¬
ten! Ihm wird ein Begleiter von dem Rector Landes, ein zwei¬
ter vom Pater Minister Delacroir beigesellt. Diesem ist's streng
geboten, keinen Schritt von seiner Seite zu weichen. Nach der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0258" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/271519"/>
              <p xml:id="ID_719" prev="#ID_718"> senkten Hauptes bewegt sich der Zug unter Begleitung eines Vor¬<lb/>
gesetzten hinaus. Ebenso kehrt er wieder zurück. &#x2014; Das Abendessen<lb/>
und die darauf folgende Unterhaltung hat ganz den mittägigen Cha¬<lb/>
rakter. Nach diesem folgt die halbstündige Vorbereitung zur Ascetik<lb/>
des kommenden Tages, hierauf eine Viertelstunde Gewissenserfor-<lb/>
schung unter Reu und Leid, dann zum Schluß eine Viertelstunde<lb/>
Nachtgebet. Fünf Minuten nachher müssen die Lichter ausgelöscht,<lb/>
und die Zöglinge zu Bett sein.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_720"> Zur pünktlichen Befolgung dieser Tagesordnung, welche durch<lb/>
die ganze Studienzeit (mit ganz unbedeutenden Aenderungen) dieselbe<lb/>
bleibt, besteht öffentliche und geheime Ueberwachung. Der Zögling<lb/>
ist keine Minute des Tages sicher, von einer Controlle überrascht und<lb/>
geprüft zu werden. Daß jeden Sonnabend Beichte ist, und jeder<lb/>
Sonn- und Festtag unbedingt nur dem Kirchendienst und doppelten<lb/>
ascetischen Uebungen gewidmet werden darf, versteht sich von selbst.<lb/>
An Ablaßtagen findet die Beichte sogar öfter auch unter der Woche<lb/>
statt. Ueberdies ist jeden Monat öffentliche Sittencensur. Hier ta¬<lb/>
delt der Präfekt oder Pedell in einer an die Alumnen gehaltenen<lb/>
Rede, was ihm TadelnSiverthes erschienen, und lies't den Manu-<lb/>
ductor vor. Letzterer enthält alle Verhaltungsregeln der Zöglinge<lb/>
innerhalb und außerhalb des Hauses. Zu Ostern und Michaelis<lb/>
hält der Necror selbst Kelormittio, d. h. er spricht in einer lan¬<lb/>
gen Abhandlung nach den Resultaten der bereits geschilderten gehei¬<lb/>
men Polizei öffentliches Urtheil über seine Kinder.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_721"> Außer den täglichen zwei Unterhaltungen (reale»lion&lt;?8) im<lb/>
Porticus herrscht im Colleg das ganze Jahr tiefstes Stillschweigen.<lb/>
Keiner darf jemals des Andern Zelle betreten, und nur in höchst<lb/>
wichtigen Fällen mit besonderer Erlaubniß des PräfectS vor dessen<lb/>
Thüre wenige Worte wechseln. Eingelaufene Briefe werden vom<lb/>
Rector geöffnet und zuerst gelesen, abzusendende müssen offen in die<lb/>
Hände des NeklorS gelegt werden.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_722" next="#ID_723"> Jeder Umgang mit der Außenwelt, selbst mit der geistlichen, ist<lb/>
abgeschnitten. Nur im dringendsten Nothfall öffnet sich dem Alum¬<lb/>
nen die Pforte des Klosters. Er darf sie aber nie allein überschrei¬<lb/>
ten! Ihm wird ein Begleiter von dem Rector Landes, ein zwei¬<lb/>
ter vom Pater Minister Delacroir beigesellt. Diesem ist's streng<lb/>
geboten, keinen Schritt von seiner Seite zu weichen.  Nach der</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0258] senkten Hauptes bewegt sich der Zug unter Begleitung eines Vor¬ gesetzten hinaus. Ebenso kehrt er wieder zurück. — Das Abendessen und die darauf folgende Unterhaltung hat ganz den mittägigen Cha¬ rakter. Nach diesem folgt die halbstündige Vorbereitung zur Ascetik des kommenden Tages, hierauf eine Viertelstunde Gewissenserfor- schung unter Reu und Leid, dann zum Schluß eine Viertelstunde Nachtgebet. Fünf Minuten nachher müssen die Lichter ausgelöscht, und die Zöglinge zu Bett sein. Zur pünktlichen Befolgung dieser Tagesordnung, welche durch die ganze Studienzeit (mit ganz unbedeutenden Aenderungen) dieselbe bleibt, besteht öffentliche und geheime Ueberwachung. Der Zögling ist keine Minute des Tages sicher, von einer Controlle überrascht und geprüft zu werden. Daß jeden Sonnabend Beichte ist, und jeder Sonn- und Festtag unbedingt nur dem Kirchendienst und doppelten ascetischen Uebungen gewidmet werden darf, versteht sich von selbst. An Ablaßtagen findet die Beichte sogar öfter auch unter der Woche statt. Ueberdies ist jeden Monat öffentliche Sittencensur. Hier ta¬ delt der Präfekt oder Pedell in einer an die Alumnen gehaltenen Rede, was ihm TadelnSiverthes erschienen, und lies't den Manu- ductor vor. Letzterer enthält alle Verhaltungsregeln der Zöglinge innerhalb und außerhalb des Hauses. Zu Ostern und Michaelis hält der Necror selbst Kelormittio, d. h. er spricht in einer lan¬ gen Abhandlung nach den Resultaten der bereits geschilderten gehei¬ men Polizei öffentliches Urtheil über seine Kinder. Außer den täglichen zwei Unterhaltungen (reale»lion<?8) im Porticus herrscht im Colleg das ganze Jahr tiefstes Stillschweigen. Keiner darf jemals des Andern Zelle betreten, und nur in höchst wichtigen Fällen mit besonderer Erlaubniß des PräfectS vor dessen Thüre wenige Worte wechseln. Eingelaufene Briefe werden vom Rector geöffnet und zuerst gelesen, abzusendende müssen offen in die Hände des NeklorS gelegt werden. Jeder Umgang mit der Außenwelt, selbst mit der geistlichen, ist abgeschnitten. Nur im dringendsten Nothfall öffnet sich dem Alum¬ nen die Pforte des Klosters. Er darf sie aber nie allein überschrei¬ ten! Ihm wird ein Begleiter von dem Rector Landes, ein zwei¬ ter vom Pater Minister Delacroir beigesellt. Diesem ist's streng geboten, keinen Schritt von seiner Seite zu weichen. Nach der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/258
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/258>, abgerufen am 05.02.2025.