Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Oratorium vollständig im Bereiche der musikalischen Macht. Auf
freierem Standpunkte steht indeß die Odensymphonie.

Eine allgemeine Idee, in der vorliegenden, die der Reise durch
die Wüste und die Gefühle bei den sich darbietenden Erscheinungen,
ist gegeben, und ward von dem Componisten auf freie Weise einge¬
leitet. Melodramatische, aber natürlich höchst einfach begleitete Stro¬
phen bringen dem Zuhörer die Idee naher und bereiten ihn auf die
Gefühle vor, die in den musikalischen Zwischensätzen ganz nach der
Phantasie des Componisten weiter verfolgt und ausgeführt werden.
Giebt es der Gegenstand, so werden letztere, die Gefühle, auch auf
Personen firirt, und in Arien, Duetten u. s. w., ja vornehmlich auch
im Chöre (was ja Beethoven ebenfalls versuchte) ausgesprochen. So
wird die Phantasie des Zuhörers, ganz dem Charakter der/'Musik
gemäß, angeregt, ohne durch Nebendinge gestört zu werden, und es
ist nicht zu zweifeln, daß bei Talent und richtiger Ausfassung von
Seiten des Componisten auf diese Weise die edelste und schönste
Wirkung hervorgebracht werden kann.

Es ist anerkannt, daß Blinde die Musik am Tiefsten empfinden;
Göthe läßt in jener bekannten Scene in Wilhelm Meister das Mu¬
sikchor hinter einem Vorhange agiren, und schon oft ist es ausge¬
sprochen worden, daß die musikalische Messe in der katholischen Kirche
einen weit größern Eindruck hervorbringen würde, wenn man (wie
dies in manchen Klosterkirchen wirklich geschah) die Ausführenden
den Blicken des Publikums entziehen könnte. Alles dies spricht da¬
für, daß die Musik erst dann in ihre Rechte eintritt, wenn dem
Auge die Macht benommen ist, die Aufmerksamkeit und die Gefühle
zu zersplittern.

Wir müssen es gestehen, wir sind für das Genre der Oden¬
symphonie eingenommen, und hoffen ernstlich, daß es dieser Compo-
sitionsweise gelingen möge, die Oper zu verdrängen. Sind wir die¬
ses Amalgama aller Künste, worin keine zur wahren Geltung gelangt,
los, dann kann auch das Drama, das ächte, ohne Flitterschmuck
auftretende, seine Rechte wieder ansprechen, die ihm durch jene so arg
verkümmert sind, dann können wir hoffen, ein bildendes Schauspiel
und wahre musikalische Genüsse zu erhalten, Genüsse, wo die Phan¬
tasie sich in höheren Schwung ergehen kann, als in dem ewig sich
wiederholenden Liebesjammer unserer Opern.

Wir stimmen für die Einführung und Nachahmung der Oden¬
symphonie, wenn dieselbe schon von einem Franzosen erfunden wor¬
den -- die Vervollkommnung bleibt dem strebenden Geiste jedes
Kraft in sich fühlenden Musikers überlassen, denn davon sind wir
weit entfernt, Davids Composition für unübertrefflich zu halten.


Leo Alt.

Oratorium vollständig im Bereiche der musikalischen Macht. Auf
freierem Standpunkte steht indeß die Odensymphonie.

Eine allgemeine Idee, in der vorliegenden, die der Reise durch
die Wüste und die Gefühle bei den sich darbietenden Erscheinungen,
ist gegeben, und ward von dem Componisten auf freie Weise einge¬
leitet. Melodramatische, aber natürlich höchst einfach begleitete Stro¬
phen bringen dem Zuhörer die Idee naher und bereiten ihn auf die
Gefühle vor, die in den musikalischen Zwischensätzen ganz nach der
Phantasie des Componisten weiter verfolgt und ausgeführt werden.
Giebt es der Gegenstand, so werden letztere, die Gefühle, auch auf
Personen firirt, und in Arien, Duetten u. s. w., ja vornehmlich auch
im Chöre (was ja Beethoven ebenfalls versuchte) ausgesprochen. So
wird die Phantasie des Zuhörers, ganz dem Charakter der/'Musik
gemäß, angeregt, ohne durch Nebendinge gestört zu werden, und es
ist nicht zu zweifeln, daß bei Talent und richtiger Ausfassung von
Seiten des Componisten auf diese Weise die edelste und schönste
Wirkung hervorgebracht werden kann.

Es ist anerkannt, daß Blinde die Musik am Tiefsten empfinden;
Göthe läßt in jener bekannten Scene in Wilhelm Meister das Mu¬
sikchor hinter einem Vorhange agiren, und schon oft ist es ausge¬
sprochen worden, daß die musikalische Messe in der katholischen Kirche
einen weit größern Eindruck hervorbringen würde, wenn man (wie
dies in manchen Klosterkirchen wirklich geschah) die Ausführenden
den Blicken des Publikums entziehen könnte. Alles dies spricht da¬
für, daß die Musik erst dann in ihre Rechte eintritt, wenn dem
Auge die Macht benommen ist, die Aufmerksamkeit und die Gefühle
zu zersplittern.

Wir müssen es gestehen, wir sind für das Genre der Oden¬
symphonie eingenommen, und hoffen ernstlich, daß es dieser Compo-
sitionsweise gelingen möge, die Oper zu verdrängen. Sind wir die¬
ses Amalgama aller Künste, worin keine zur wahren Geltung gelangt,
los, dann kann auch das Drama, das ächte, ohne Flitterschmuck
auftretende, seine Rechte wieder ansprechen, die ihm durch jene so arg
verkümmert sind, dann können wir hoffen, ein bildendes Schauspiel
und wahre musikalische Genüsse zu erhalten, Genüsse, wo die Phan¬
tasie sich in höheren Schwung ergehen kann, als in dem ewig sich
wiederholenden Liebesjammer unserer Opern.

Wir stimmen für die Einführung und Nachahmung der Oden¬
symphonie, wenn dieselbe schon von einem Franzosen erfunden wor¬
den — die Vervollkommnung bleibt dem strebenden Geiste jedes
Kraft in sich fühlenden Musikers überlassen, denn davon sind wir
weit entfernt, Davids Composition für unübertrefflich zu halten.


Leo Alt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0180" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/271441"/>
            <p xml:id="ID_462" prev="#ID_461"> Oratorium vollständig im Bereiche der musikalischen Macht. Auf<lb/>
freierem Standpunkte steht indeß die Odensymphonie.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_463"> Eine allgemeine Idee, in der vorliegenden, die der Reise durch<lb/>
die Wüste und die Gefühle bei den sich darbietenden Erscheinungen,<lb/>
ist gegeben, und ward von dem Componisten auf freie Weise einge¬<lb/>
leitet. Melodramatische, aber natürlich höchst einfach begleitete Stro¬<lb/>
phen bringen dem Zuhörer die Idee naher und bereiten ihn auf die<lb/>
Gefühle vor, die in den musikalischen Zwischensätzen ganz nach der<lb/>
Phantasie des Componisten weiter verfolgt und ausgeführt werden.<lb/>
Giebt es der Gegenstand, so werden letztere, die Gefühle, auch auf<lb/>
Personen firirt, und in Arien, Duetten u. s. w., ja vornehmlich auch<lb/>
im Chöre (was ja Beethoven ebenfalls versuchte) ausgesprochen. So<lb/>
wird die Phantasie des Zuhörers, ganz dem Charakter der/'Musik<lb/>
gemäß, angeregt, ohne durch Nebendinge gestört zu werden, und es<lb/>
ist nicht zu zweifeln, daß bei Talent und richtiger Ausfassung von<lb/>
Seiten des Componisten auf diese Weise die edelste und schönste<lb/>
Wirkung hervorgebracht werden kann.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_464"> Es ist anerkannt, daß Blinde die Musik am Tiefsten empfinden;<lb/>
Göthe läßt in jener bekannten Scene in Wilhelm Meister das Mu¬<lb/>
sikchor hinter einem Vorhange agiren, und schon oft ist es ausge¬<lb/>
sprochen worden, daß die musikalische Messe in der katholischen Kirche<lb/>
einen weit größern Eindruck hervorbringen würde, wenn man (wie<lb/>
dies in manchen Klosterkirchen wirklich geschah) die Ausführenden<lb/>
den Blicken des Publikums entziehen könnte. Alles dies spricht da¬<lb/>
für, daß die Musik erst dann in ihre Rechte eintritt, wenn dem<lb/>
Auge die Macht benommen ist, die Aufmerksamkeit und die Gefühle<lb/>
zu zersplittern.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_465"> Wir müssen es gestehen, wir sind für das Genre der Oden¬<lb/>
symphonie eingenommen, und hoffen ernstlich, daß es dieser Compo-<lb/>
sitionsweise gelingen möge, die Oper zu verdrängen. Sind wir die¬<lb/>
ses Amalgama aller Künste, worin keine zur wahren Geltung gelangt,<lb/>
los, dann kann auch das Drama, das ächte, ohne Flitterschmuck<lb/>
auftretende, seine Rechte wieder ansprechen, die ihm durch jene so arg<lb/>
verkümmert sind, dann können wir hoffen, ein bildendes Schauspiel<lb/>
und wahre musikalische Genüsse zu erhalten, Genüsse, wo die Phan¬<lb/>
tasie sich in höheren Schwung ergehen kann, als in dem ewig sich<lb/>
wiederholenden Liebesjammer unserer Opern.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_466"> Wir stimmen für die Einführung und Nachahmung der Oden¬<lb/>
symphonie, wenn dieselbe schon von einem Franzosen erfunden wor¬<lb/>
den &#x2014; die Vervollkommnung bleibt dem strebenden Geiste jedes<lb/>
Kraft in sich fühlenden Musikers überlassen, denn davon sind wir<lb/>
weit entfernt, Davids Composition für unübertrefflich zu halten.</p><lb/>
            <note type="byline"> Leo Alt.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0180] Oratorium vollständig im Bereiche der musikalischen Macht. Auf freierem Standpunkte steht indeß die Odensymphonie. Eine allgemeine Idee, in der vorliegenden, die der Reise durch die Wüste und die Gefühle bei den sich darbietenden Erscheinungen, ist gegeben, und ward von dem Componisten auf freie Weise einge¬ leitet. Melodramatische, aber natürlich höchst einfach begleitete Stro¬ phen bringen dem Zuhörer die Idee naher und bereiten ihn auf die Gefühle vor, die in den musikalischen Zwischensätzen ganz nach der Phantasie des Componisten weiter verfolgt und ausgeführt werden. Giebt es der Gegenstand, so werden letztere, die Gefühle, auch auf Personen firirt, und in Arien, Duetten u. s. w., ja vornehmlich auch im Chöre (was ja Beethoven ebenfalls versuchte) ausgesprochen. So wird die Phantasie des Zuhörers, ganz dem Charakter der/'Musik gemäß, angeregt, ohne durch Nebendinge gestört zu werden, und es ist nicht zu zweifeln, daß bei Talent und richtiger Ausfassung von Seiten des Componisten auf diese Weise die edelste und schönste Wirkung hervorgebracht werden kann. Es ist anerkannt, daß Blinde die Musik am Tiefsten empfinden; Göthe läßt in jener bekannten Scene in Wilhelm Meister das Mu¬ sikchor hinter einem Vorhange agiren, und schon oft ist es ausge¬ sprochen worden, daß die musikalische Messe in der katholischen Kirche einen weit größern Eindruck hervorbringen würde, wenn man (wie dies in manchen Klosterkirchen wirklich geschah) die Ausführenden den Blicken des Publikums entziehen könnte. Alles dies spricht da¬ für, daß die Musik erst dann in ihre Rechte eintritt, wenn dem Auge die Macht benommen ist, die Aufmerksamkeit und die Gefühle zu zersplittern. Wir müssen es gestehen, wir sind für das Genre der Oden¬ symphonie eingenommen, und hoffen ernstlich, daß es dieser Compo- sitionsweise gelingen möge, die Oper zu verdrängen. Sind wir die¬ ses Amalgama aller Künste, worin keine zur wahren Geltung gelangt, los, dann kann auch das Drama, das ächte, ohne Flitterschmuck auftretende, seine Rechte wieder ansprechen, die ihm durch jene so arg verkümmert sind, dann können wir hoffen, ein bildendes Schauspiel und wahre musikalische Genüsse zu erhalten, Genüsse, wo die Phan¬ tasie sich in höheren Schwung ergehen kann, als in dem ewig sich wiederholenden Liebesjammer unserer Opern. Wir stimmen für die Einführung und Nachahmung der Oden¬ symphonie, wenn dieselbe schon von einem Franzosen erfunden wor¬ den — die Vervollkommnung bleibt dem strebenden Geiste jedes Kraft in sich fühlenden Musikers überlassen, denn davon sind wir weit entfernt, Davids Composition für unübertrefflich zu halten. Leo Alt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/180
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/180>, abgerufen am 05.02.2025.