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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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die "Wüste" einen allgemeinen Anklang. Ohne näher auf den in¬
nern Werth dieser Komposition einzugehen, die ja auch in Leipzig
und andern großen Städten zur Ausführung gekommen, sei es uns
erlaubt, über das Wesen dieser neuen Art musikalischer Production
einige Worte zu sagen.

In der Oper hat der Componist jedwede Situation, die sich in
dem langen Laufe unserer Libretti ergibt, durch Musik darzustellen,
oder wenigstens zweckmäßig zu begleiten, eine, strenggenommen, un¬
lösbare Aufgabe.

Entweder der Handlung oder dem Dialog, oder der Charakteri¬
stik, oder der musikalischen Einheit und Rundung wird Gewalt an¬
gethan, und nur die Gewöhnung läßt uns tausend Dinge übersehen,
die den wahrhaft Unbefangenen aus dem Tempel der Musen hinaus¬
treiben würde. Zwar sind die Bestrebungen der deutschen Componi-
sten, vornehmlich Meyerbeers, der ja auch der Unsre ist, in hohem
Grade anzuerkennen, aber wie weit bleibt das Ziel entfernt! Die
Italiener machen sich die Sache leichter, indem sie von aller drama¬
tischen Musik abstrahiren und zwischen den endlosen Rezitativen, die
dem Ganzen einen Schein der Handlung leihen, ihre süßen Melo¬
dien in Form von Arien, Duetten, Terzetten u. s. w. anbringen,
und alle die verweichlichten Ohren so entzücken, daß man vergißt,
mitten in welchem Unsinne man sich befindet. Uebrigens ist es
nicht zu leugnen, daß Musik und Poesie in vielen Beziehungen
sich gegenseitig heben und tragen, wenn man nur nicht jede Poesie
in Musik setzen, noch jede Musik in Wort" zerlegen will. Jedenfalls
dient es bei größeren und tieferen musikalischen Werken zur Erleichte¬
rung der Auffassung, wenn der Zuhörer sich an eine bestimmte Idee
halten kann, innerhalb welcher die Musik sich bewegt, ohne, wie in
der Oper, ganze Situationen bis in's Kleinste verfolgen zu wollen.
Auch liebt es der Componist freier Werke, irgend eine allgemeine
Idee seiner Composition zu Grunde zu legen, und dieselbe auf seine
Weise durchzuführen. Ich erinnere an Beethoven's Heroica und
Pastoralsymphonie.

Wer die sogenannte Odesymphonie David's gehört, wird mit
mir übereinstimmend erklären müssen, daß wir hier einer Zwischen¬
stufe zwischen Symphonie und Oper begegnen, und zwar einer höchst
glücklich angelegten Zwischenstufe. In der Cantate, im Oratorium
haben wir ebenfalls eine solche, die sich jedoch mehr dem Gesänge
anschließt und das rein instrumentale Element mit geringen Ausnah¬
men (z. B. dem Trauermarsche in Samson von Händel) gänzlich
entfernt. Die also beständig zu commentirendcn Worte treten dem¬
nach auch hier, obgleich lange nicht so schroff, wie in der Oper,
hemmend ein; indessen bleiben bei richtiger Dichtung Cantate und


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die „Wüste" einen allgemeinen Anklang. Ohne näher auf den in¬
nern Werth dieser Komposition einzugehen, die ja auch in Leipzig
und andern großen Städten zur Ausführung gekommen, sei es uns
erlaubt, über das Wesen dieser neuen Art musikalischer Production
einige Worte zu sagen.

In der Oper hat der Componist jedwede Situation, die sich in
dem langen Laufe unserer Libretti ergibt, durch Musik darzustellen,
oder wenigstens zweckmäßig zu begleiten, eine, strenggenommen, un¬
lösbare Aufgabe.

Entweder der Handlung oder dem Dialog, oder der Charakteri¬
stik, oder der musikalischen Einheit und Rundung wird Gewalt an¬
gethan, und nur die Gewöhnung läßt uns tausend Dinge übersehen,
die den wahrhaft Unbefangenen aus dem Tempel der Musen hinaus¬
treiben würde. Zwar sind die Bestrebungen der deutschen Componi-
sten, vornehmlich Meyerbeers, der ja auch der Unsre ist, in hohem
Grade anzuerkennen, aber wie weit bleibt das Ziel entfernt! Die
Italiener machen sich die Sache leichter, indem sie von aller drama¬
tischen Musik abstrahiren und zwischen den endlosen Rezitativen, die
dem Ganzen einen Schein der Handlung leihen, ihre süßen Melo¬
dien in Form von Arien, Duetten, Terzetten u. s. w. anbringen,
und alle die verweichlichten Ohren so entzücken, daß man vergißt,
mitten in welchem Unsinne man sich befindet. Uebrigens ist es
nicht zu leugnen, daß Musik und Poesie in vielen Beziehungen
sich gegenseitig heben und tragen, wenn man nur nicht jede Poesie
in Musik setzen, noch jede Musik in Wort« zerlegen will. Jedenfalls
dient es bei größeren und tieferen musikalischen Werken zur Erleichte¬
rung der Auffassung, wenn der Zuhörer sich an eine bestimmte Idee
halten kann, innerhalb welcher die Musik sich bewegt, ohne, wie in
der Oper, ganze Situationen bis in's Kleinste verfolgen zu wollen.
Auch liebt es der Componist freier Werke, irgend eine allgemeine
Idee seiner Composition zu Grunde zu legen, und dieselbe auf seine
Weise durchzuführen. Ich erinnere an Beethoven's Heroica und
Pastoralsymphonie.

Wer die sogenannte Odesymphonie David's gehört, wird mit
mir übereinstimmend erklären müssen, daß wir hier einer Zwischen¬
stufe zwischen Symphonie und Oper begegnen, und zwar einer höchst
glücklich angelegten Zwischenstufe. In der Cantate, im Oratorium
haben wir ebenfalls eine solche, die sich jedoch mehr dem Gesänge
anschließt und das rein instrumentale Element mit geringen Ausnah¬
men (z. B. dem Trauermarsche in Samson von Händel) gänzlich
entfernt. Die also beständig zu commentirendcn Worte treten dem¬
nach auch hier, obgleich lange nicht so schroff, wie in der Oper,
hemmend ein; indessen bleiben bei richtiger Dichtung Cantate und


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[0179] die „Wüste" einen allgemeinen Anklang. Ohne näher auf den in¬ nern Werth dieser Komposition einzugehen, die ja auch in Leipzig und andern großen Städten zur Ausführung gekommen, sei es uns erlaubt, über das Wesen dieser neuen Art musikalischer Production einige Worte zu sagen. In der Oper hat der Componist jedwede Situation, die sich in dem langen Laufe unserer Libretti ergibt, durch Musik darzustellen, oder wenigstens zweckmäßig zu begleiten, eine, strenggenommen, un¬ lösbare Aufgabe. Entweder der Handlung oder dem Dialog, oder der Charakteri¬ stik, oder der musikalischen Einheit und Rundung wird Gewalt an¬ gethan, und nur die Gewöhnung läßt uns tausend Dinge übersehen, die den wahrhaft Unbefangenen aus dem Tempel der Musen hinaus¬ treiben würde. Zwar sind die Bestrebungen der deutschen Componi- sten, vornehmlich Meyerbeers, der ja auch der Unsre ist, in hohem Grade anzuerkennen, aber wie weit bleibt das Ziel entfernt! Die Italiener machen sich die Sache leichter, indem sie von aller drama¬ tischen Musik abstrahiren und zwischen den endlosen Rezitativen, die dem Ganzen einen Schein der Handlung leihen, ihre süßen Melo¬ dien in Form von Arien, Duetten, Terzetten u. s. w. anbringen, und alle die verweichlichten Ohren so entzücken, daß man vergißt, mitten in welchem Unsinne man sich befindet. Uebrigens ist es nicht zu leugnen, daß Musik und Poesie in vielen Beziehungen sich gegenseitig heben und tragen, wenn man nur nicht jede Poesie in Musik setzen, noch jede Musik in Wort« zerlegen will. Jedenfalls dient es bei größeren und tieferen musikalischen Werken zur Erleichte¬ rung der Auffassung, wenn der Zuhörer sich an eine bestimmte Idee halten kann, innerhalb welcher die Musik sich bewegt, ohne, wie in der Oper, ganze Situationen bis in's Kleinste verfolgen zu wollen. Auch liebt es der Componist freier Werke, irgend eine allgemeine Idee seiner Composition zu Grunde zu legen, und dieselbe auf seine Weise durchzuführen. Ich erinnere an Beethoven's Heroica und Pastoralsymphonie. Wer die sogenannte Odesymphonie David's gehört, wird mit mir übereinstimmend erklären müssen, daß wir hier einer Zwischen¬ stufe zwischen Symphonie und Oper begegnen, und zwar einer höchst glücklich angelegten Zwischenstufe. In der Cantate, im Oratorium haben wir ebenfalls eine solche, die sich jedoch mehr dem Gesänge anschließt und das rein instrumentale Element mit geringen Ausnah¬ men (z. B. dem Trauermarsche in Samson von Händel) gänzlich entfernt. Die also beständig zu commentirendcn Worte treten dem¬ nach auch hier, obgleich lange nicht so schroff, wie in der Oper, hemmend ein; indessen bleiben bei richtiger Dichtung Cantate und 22 >

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/179>, abgerufen am 05.02.2025.