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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Ich bin der Meinung, daß an Volkssagen immer etwas Wah¬
res sein müsse, namentlich aber an solchen, die im Gebiete der Na¬
türlichkeit sich zeigen, und nicht, wie die von Schwab und Lochr u.
A., die sprechende Esel, Drachen und Zauberringe vorführen. Die
Gründung Krakau'S durch den Herzog Krokus, scheint mir, kann
als Wahrheit angenommen werden. Schwerlich mag man der
Stadt Krakau ein höheres Aller, als das von 1100 Jahren zu¬
schreiben können. Es giebt einige Volkssagen, welche Krakau auf
andere, als die angegebene Weise erstehen lassen, um so weniger
aber zum Glauben aufgenommen zu werden verdienen, als sie das
Ereigniß in wunderliche Abentheuer wickeln.

Das Schloß, von welchem herab die alten Könige über daS
damals gewaltige Reich, und selbst noch weit über dessen Grenzen
hinaus geherrscht haben, schauete von dem Berge Wawel hernieder
durch die Fenster unsers Zimmers auf die Tafel. Ich sah weniger
die Leckerbissen vor mir, als das kolossale, prachtvolle Gebäude, von
dessen Antlitz die widrigsten Geschicke die Züge der Majestät zu rei^
ben nicht vermocht haben.

Sobald die Mittagstafel aufgehoben war, beurlaubte ich mich,
um das Schloß zu besuchen. Mein Reisegefährte ließ sich nicht hin¬
dern, mein Begleiter zu sein, ja selbst seine liebliche Schwester trat
in meine Begleitung.

Der geneigte Leser staune nicht zweifelnd mein polnisches Paar
an. Gastfreundschaft und Gastfreundlichkeit sind zwei Tugenden in
dem polnischen Charakter, die ungemein weite Grenzen haben und
dem Fremden eine sehr reiche Entschädigung geben für daS, was
ihm das polnische Land bei seiner noch gegenwärtigen Unwirthbar-
keit nicht gewähren kann. In Deutschland möchten sich Einem Leute,
die Einen seit zwei Tagen erst kennen gelernt, schwerlich so hingeben.
Unsere deutsche Gastfreundschaft und Gastfreundlichkeit sind in den
heiligen Hainen unserer Urväter zurückgeblieben; in diese müssen wir
zurückgehen, um sie zu finden. Der unter Gottes hohem Firma¬
mente Reisende kommt aber leider nie mehr in jene heiligen Haine
und zu jenem gastfreundschaftlichen deutschen Volke; das Glück ge¬
nießt nur höchstens der auf den Blättern der Chroniken und der
Geschichte Retsende.

Handel und Industrie haben sich in unserem lieben Deutsch-


21*

Ich bin der Meinung, daß an Volkssagen immer etwas Wah¬
res sein müsse, namentlich aber an solchen, die im Gebiete der Na¬
türlichkeit sich zeigen, und nicht, wie die von Schwab und Lochr u.
A., die sprechende Esel, Drachen und Zauberringe vorführen. Die
Gründung Krakau'S durch den Herzog Krokus, scheint mir, kann
als Wahrheit angenommen werden. Schwerlich mag man der
Stadt Krakau ein höheres Aller, als das von 1100 Jahren zu¬
schreiben können. Es giebt einige Volkssagen, welche Krakau auf
andere, als die angegebene Weise erstehen lassen, um so weniger
aber zum Glauben aufgenommen zu werden verdienen, als sie das
Ereigniß in wunderliche Abentheuer wickeln.

Das Schloß, von welchem herab die alten Könige über daS
damals gewaltige Reich, und selbst noch weit über dessen Grenzen
hinaus geherrscht haben, schauete von dem Berge Wawel hernieder
durch die Fenster unsers Zimmers auf die Tafel. Ich sah weniger
die Leckerbissen vor mir, als das kolossale, prachtvolle Gebäude, von
dessen Antlitz die widrigsten Geschicke die Züge der Majestät zu rei^
ben nicht vermocht haben.

Sobald die Mittagstafel aufgehoben war, beurlaubte ich mich,
um das Schloß zu besuchen. Mein Reisegefährte ließ sich nicht hin¬
dern, mein Begleiter zu sein, ja selbst seine liebliche Schwester trat
in meine Begleitung.

Der geneigte Leser staune nicht zweifelnd mein polnisches Paar
an. Gastfreundschaft und Gastfreundlichkeit sind zwei Tugenden in
dem polnischen Charakter, die ungemein weite Grenzen haben und
dem Fremden eine sehr reiche Entschädigung geben für daS, was
ihm das polnische Land bei seiner noch gegenwärtigen Unwirthbar-
keit nicht gewähren kann. In Deutschland möchten sich Einem Leute,
die Einen seit zwei Tagen erst kennen gelernt, schwerlich so hingeben.
Unsere deutsche Gastfreundschaft und Gastfreundlichkeit sind in den
heiligen Hainen unserer Urväter zurückgeblieben; in diese müssen wir
zurückgehen, um sie zu finden. Der unter Gottes hohem Firma¬
mente Reisende kommt aber leider nie mehr in jene heiligen Haine
und zu jenem gastfreundschaftlichen deutschen Volke; das Glück ge¬
nießt nur höchstens der auf den Blättern der Chroniken und der
Geschichte Retsende.

Handel und Industrie haben sich in unserem lieben Deutsch-


21*
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[0171] Ich bin der Meinung, daß an Volkssagen immer etwas Wah¬ res sein müsse, namentlich aber an solchen, die im Gebiete der Na¬ türlichkeit sich zeigen, und nicht, wie die von Schwab und Lochr u. A., die sprechende Esel, Drachen und Zauberringe vorführen. Die Gründung Krakau'S durch den Herzog Krokus, scheint mir, kann als Wahrheit angenommen werden. Schwerlich mag man der Stadt Krakau ein höheres Aller, als das von 1100 Jahren zu¬ schreiben können. Es giebt einige Volkssagen, welche Krakau auf andere, als die angegebene Weise erstehen lassen, um so weniger aber zum Glauben aufgenommen zu werden verdienen, als sie das Ereigniß in wunderliche Abentheuer wickeln. Das Schloß, von welchem herab die alten Könige über daS damals gewaltige Reich, und selbst noch weit über dessen Grenzen hinaus geherrscht haben, schauete von dem Berge Wawel hernieder durch die Fenster unsers Zimmers auf die Tafel. Ich sah weniger die Leckerbissen vor mir, als das kolossale, prachtvolle Gebäude, von dessen Antlitz die widrigsten Geschicke die Züge der Majestät zu rei^ ben nicht vermocht haben. Sobald die Mittagstafel aufgehoben war, beurlaubte ich mich, um das Schloß zu besuchen. Mein Reisegefährte ließ sich nicht hin¬ dern, mein Begleiter zu sein, ja selbst seine liebliche Schwester trat in meine Begleitung. Der geneigte Leser staune nicht zweifelnd mein polnisches Paar an. Gastfreundschaft und Gastfreundlichkeit sind zwei Tugenden in dem polnischen Charakter, die ungemein weite Grenzen haben und dem Fremden eine sehr reiche Entschädigung geben für daS, was ihm das polnische Land bei seiner noch gegenwärtigen Unwirthbar- keit nicht gewähren kann. In Deutschland möchten sich Einem Leute, die Einen seit zwei Tagen erst kennen gelernt, schwerlich so hingeben. Unsere deutsche Gastfreundschaft und Gastfreundlichkeit sind in den heiligen Hainen unserer Urväter zurückgeblieben; in diese müssen wir zurückgehen, um sie zu finden. Der unter Gottes hohem Firma¬ mente Reisende kommt aber leider nie mehr in jene heiligen Haine und zu jenem gastfreundschaftlichen deutschen Volke; das Glück ge¬ nießt nur höchstens der auf den Blättern der Chroniken und der Geschichte Retsende. Handel und Industrie haben sich in unserem lieben Deutsch- 21*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/171>, abgerufen am 05.02.2025.