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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Aufzeichnungen
eines
Jesilitelljöglings im deutschen Colleg ;n Nom
von
I. Georg Köderte,



Erste Abtheilung.
I.

Georg war im Jahre 1838 Schüler der Obergymnasialklasse zu
Augsburg. Seine ganze Welt-- und Menschenkenntniß bestand da¬
mals aus Sentenzen und Versen, die er während des achtjährigen
Lehrcursus aus den deutsche", griechischen, lateinischen, französischen und
italienischen Klassikern wörtlich meniorirt hatte. Nichts desto weniger
hielt er sich schon für einen sehr gelehrten Mann, und wenn er gar
einem geduldigen Zuhörer Proben seines treuen Gedächtnisses liefern
durfte, so würde selbst Diogenes im Weinfaß vor seiner Bescheiden¬
heit ehrfurchtsvoll zurückgetreten sein. Georg verließ sein kleines
Stübchen niemals, ohne das alphabetische Register sämmtlicher Citate
in seine Rocktasche zu stecken, um es gleich einem Sicherheitsrat) stets
präsentiren zu können. Hier war Alles bunt durcheinander gewür¬
felt, was bei der Privatlectüre das jugendlich schwärmerische Gemüth
des werdenden Mannes mitempfinden konnte. Nach diesem, wie
er fest glaubte, köstlichen Schatz von Lebensmarimen wurde seine
ganze Umgebung beurtheilt und censirt. Selbst Georg's Lehrer, die
ehrwürdigen 8". ÜLneäieii, fanden keinen Pardon, ungeachtet
seine gute, fromme Mutter ihm oft und viel von den furchtbaren
Strafen erzählte, welche alle diejenigen unfehlbar treffen müssen, die


Gr-nzbotcn, >V.
Aufzeichnungen
eines
Jesilitelljöglings im deutschen Colleg ;n Nom
von
I. Georg Köderte,



Erste Abtheilung.
I.

Georg war im Jahre 1838 Schüler der Obergymnasialklasse zu
Augsburg. Seine ganze Welt-- und Menschenkenntniß bestand da¬
mals aus Sentenzen und Versen, die er während des achtjährigen
Lehrcursus aus den deutsche», griechischen, lateinischen, französischen und
italienischen Klassikern wörtlich meniorirt hatte. Nichts desto weniger
hielt er sich schon für einen sehr gelehrten Mann, und wenn er gar
einem geduldigen Zuhörer Proben seines treuen Gedächtnisses liefern
durfte, so würde selbst Diogenes im Weinfaß vor seiner Bescheiden¬
heit ehrfurchtsvoll zurückgetreten sein. Georg verließ sein kleines
Stübchen niemals, ohne das alphabetische Register sämmtlicher Citate
in seine Rocktasche zu stecken, um es gleich einem Sicherheitsrat) stets
präsentiren zu können. Hier war Alles bunt durcheinander gewür¬
felt, was bei der Privatlectüre das jugendlich schwärmerische Gemüth
des werdenden Mannes mitempfinden konnte. Nach diesem, wie
er fest glaubte, köstlichen Schatz von Lebensmarimen wurde seine
ganze Umgebung beurtheilt und censirt. Selbst Georg's Lehrer, die
ehrwürdigen 8». ÜLneäieii, fanden keinen Pardon, ungeachtet
seine gute, fromme Mutter ihm oft und viel von den furchtbaren
Strafen erzählte, welche alle diejenigen unfehlbar treffen müssen, die


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[0153] Aufzeichnungen eines Jesilitelljöglings im deutschen Colleg ;n Nom von I. Georg Köderte, Erste Abtheilung. I. Georg war im Jahre 1838 Schüler der Obergymnasialklasse zu Augsburg. Seine ganze Welt-- und Menschenkenntniß bestand da¬ mals aus Sentenzen und Versen, die er während des achtjährigen Lehrcursus aus den deutsche», griechischen, lateinischen, französischen und italienischen Klassikern wörtlich meniorirt hatte. Nichts desto weniger hielt er sich schon für einen sehr gelehrten Mann, und wenn er gar einem geduldigen Zuhörer Proben seines treuen Gedächtnisses liefern durfte, so würde selbst Diogenes im Weinfaß vor seiner Bescheiden¬ heit ehrfurchtsvoll zurückgetreten sein. Georg verließ sein kleines Stübchen niemals, ohne das alphabetische Register sämmtlicher Citate in seine Rocktasche zu stecken, um es gleich einem Sicherheitsrat) stets präsentiren zu können. Hier war Alles bunt durcheinander gewür¬ felt, was bei der Privatlectüre das jugendlich schwärmerische Gemüth des werdenden Mannes mitempfinden konnte. Nach diesem, wie er fest glaubte, köstlichen Schatz von Lebensmarimen wurde seine ganze Umgebung beurtheilt und censirt. Selbst Georg's Lehrer, die ehrwürdigen 8». ÜLneäieii, fanden keinen Pardon, ungeachtet seine gute, fromme Mutter ihm oft und viel von den furchtbaren Strafen erzählte, welche alle diejenigen unfehlbar treffen müssen, die Gr-nzbotcn, >V.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/153>, abgerufen am 05.02.2025.