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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Charaktermörderische einer solchen Censur mehr, als jeder Andere.
Der Dichter, der Künstler, der Gelehrte, jedes Mitglied irgend eines
Standes hat zwei verschiedene Welten; eine innere und eine äußere
Welt. Mag ihn seine Beziehung mit der äußern Welt oft auch
tief verletzen, er kann sich inS Innere zurückziehen; er kann seinen
Gedanken, seinen Empfindungen nachhängen, unabhängig von den
Geschäften seines äußern Berufs. Er kann sein Talent, seinen Cha¬
rakter mehr oder weniger in der Stille entwickeln; in das Reich seines
innern Leben bringt keine äußere Macht ein. Anders mit dem publi-
cistischen Journalisten. Er soll den täglichen GeistespulSschlag seines
Volkes mit seiner Reflexion Schritt für Schritt begleiten. Was im
Laufe des Tages durch Lectüre, durch Zeitungen, durch geselligen
Austausch in ihm angeregt wird, das soll er alsofort innerlich bear¬
beiten, damit es am andern Morgen auf dem Papiere stehe. Zwischen
Denken und Empfinden auf der einen Seite und zwischen Schreiben
auf der andern Seite bildet sich ein arges Wechselverhältniß. Er
denkt zuletzt nur in Beziehung auf sein Schreiben. Keiner Gedanken¬
reihe, keiner Betrachtung darf er nachhängen, die er nicht auch als¬
bald veröffentlichen darf; denn sie würde ihn nur in Ausübung seines
Berufs und in der dazu nöthigen Sammlung stören. Wenn er nicht
frei schreiben darf was ihn geistig bewegt, so wagt er zuletzt auch
nicht mehr frei zu denken. Das ist das Zerstörende einer solchen
Censur, das moralisch Verderbende. Auch die stärkste, freieste Natur
kann auf die Länge dem charaktcrmörderischen Einflüsse einer solchen
Censur nicht widerstehen. Ein publicistischer Journalist, der zwan¬
zig Jahre unter solcher Aufsicht geschrieben, und dabei ein freier,
wahrer Charakter geblieben, ist eine Unmöglichkeit.

Wir wagen in diesem Augenblicke nicht mehr zu sagen; wir
haben uns bemüht, diesen Aufsatz censurmäßig zu halten und wollen
durch zu bedenkliche Behauptungen am Schlüsse unsere Mühe nicht
abermals vergeblich machen. Vielleicht erleben wir noch die Zeit,
wo alle Ueberzeugungen, und seien sie noch so entgegengesetzt, sich
in der einen wenigstens vereinigen, daß die Censur keiner einzigen
förderlich sein kann, und daß sie nur dazu dient, jegliche Ueber-
zeugungSfähigkeit zu zerstören. Alsdann werden wir unsere Aus¬
drücke nicht mehr so diplomatisch und schlangenglatt auszuwählen


Charaktermörderische einer solchen Censur mehr, als jeder Andere.
Der Dichter, der Künstler, der Gelehrte, jedes Mitglied irgend eines
Standes hat zwei verschiedene Welten; eine innere und eine äußere
Welt. Mag ihn seine Beziehung mit der äußern Welt oft auch
tief verletzen, er kann sich inS Innere zurückziehen; er kann seinen
Gedanken, seinen Empfindungen nachhängen, unabhängig von den
Geschäften seines äußern Berufs. Er kann sein Talent, seinen Cha¬
rakter mehr oder weniger in der Stille entwickeln; in das Reich seines
innern Leben bringt keine äußere Macht ein. Anders mit dem publi-
cistischen Journalisten. Er soll den täglichen GeistespulSschlag seines
Volkes mit seiner Reflexion Schritt für Schritt begleiten. Was im
Laufe des Tages durch Lectüre, durch Zeitungen, durch geselligen
Austausch in ihm angeregt wird, das soll er alsofort innerlich bear¬
beiten, damit es am andern Morgen auf dem Papiere stehe. Zwischen
Denken und Empfinden auf der einen Seite und zwischen Schreiben
auf der andern Seite bildet sich ein arges Wechselverhältniß. Er
denkt zuletzt nur in Beziehung auf sein Schreiben. Keiner Gedanken¬
reihe, keiner Betrachtung darf er nachhängen, die er nicht auch als¬
bald veröffentlichen darf; denn sie würde ihn nur in Ausübung seines
Berufs und in der dazu nöthigen Sammlung stören. Wenn er nicht
frei schreiben darf was ihn geistig bewegt, so wagt er zuletzt auch
nicht mehr frei zu denken. Das ist das Zerstörende einer solchen
Censur, das moralisch Verderbende. Auch die stärkste, freieste Natur
kann auf die Länge dem charaktcrmörderischen Einflüsse einer solchen
Censur nicht widerstehen. Ein publicistischer Journalist, der zwan¬
zig Jahre unter solcher Aufsicht geschrieben, und dabei ein freier,
wahrer Charakter geblieben, ist eine Unmöglichkeit.

Wir wagen in diesem Augenblicke nicht mehr zu sagen; wir
haben uns bemüht, diesen Aufsatz censurmäßig zu halten und wollen
durch zu bedenkliche Behauptungen am Schlüsse unsere Mühe nicht
abermals vergeblich machen. Vielleicht erleben wir noch die Zeit,
wo alle Ueberzeugungen, und seien sie noch so entgegengesetzt, sich
in der einen wenigstens vereinigen, daß die Censur keiner einzigen
förderlich sein kann, und daß sie nur dazu dient, jegliche Ueber-
zeugungSfähigkeit zu zerstören. Alsdann werden wir unsere Aus¬
drücke nicht mehr so diplomatisch und schlangenglatt auszuwählen


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[0013] Charaktermörderische einer solchen Censur mehr, als jeder Andere. Der Dichter, der Künstler, der Gelehrte, jedes Mitglied irgend eines Standes hat zwei verschiedene Welten; eine innere und eine äußere Welt. Mag ihn seine Beziehung mit der äußern Welt oft auch tief verletzen, er kann sich inS Innere zurückziehen; er kann seinen Gedanken, seinen Empfindungen nachhängen, unabhängig von den Geschäften seines äußern Berufs. Er kann sein Talent, seinen Cha¬ rakter mehr oder weniger in der Stille entwickeln; in das Reich seines innern Leben bringt keine äußere Macht ein. Anders mit dem publi- cistischen Journalisten. Er soll den täglichen GeistespulSschlag seines Volkes mit seiner Reflexion Schritt für Schritt begleiten. Was im Laufe des Tages durch Lectüre, durch Zeitungen, durch geselligen Austausch in ihm angeregt wird, das soll er alsofort innerlich bear¬ beiten, damit es am andern Morgen auf dem Papiere stehe. Zwischen Denken und Empfinden auf der einen Seite und zwischen Schreiben auf der andern Seite bildet sich ein arges Wechselverhältniß. Er denkt zuletzt nur in Beziehung auf sein Schreiben. Keiner Gedanken¬ reihe, keiner Betrachtung darf er nachhängen, die er nicht auch als¬ bald veröffentlichen darf; denn sie würde ihn nur in Ausübung seines Berufs und in der dazu nöthigen Sammlung stören. Wenn er nicht frei schreiben darf was ihn geistig bewegt, so wagt er zuletzt auch nicht mehr frei zu denken. Das ist das Zerstörende einer solchen Censur, das moralisch Verderbende. Auch die stärkste, freieste Natur kann auf die Länge dem charaktcrmörderischen Einflüsse einer solchen Censur nicht widerstehen. Ein publicistischer Journalist, der zwan¬ zig Jahre unter solcher Aufsicht geschrieben, und dabei ein freier, wahrer Charakter geblieben, ist eine Unmöglichkeit. Wir wagen in diesem Augenblicke nicht mehr zu sagen; wir haben uns bemüht, diesen Aufsatz censurmäßig zu halten und wollen durch zu bedenkliche Behauptungen am Schlüsse unsere Mühe nicht abermals vergeblich machen. Vielleicht erleben wir noch die Zeit, wo alle Ueberzeugungen, und seien sie noch so entgegengesetzt, sich in der einen wenigstens vereinigen, daß die Censur keiner einzigen förderlich sein kann, und daß sie nur dazu dient, jegliche Ueber- zeugungSfähigkeit zu zerstören. Alsdann werden wir unsere Aus¬ drücke nicht mehr so diplomatisch und schlangenglatt auszuwählen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/13>, abgerufen am 05.02.2025.