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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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sie unseren Sängerinnen in neuester Zeit ganz fremd geworden zu
sein scheint. Gewiß sind in Deutschland seit zehn oder zwanzig Jah¬
ren die guten Stimmen nicht ausgerottet, gewiß würde sich auch heute
noch eine Kehle wie die der Milder, der Schechner, der Sontag fin¬
den lassen, wenn nur auch die Schule sich finden ließe, die diese Sän¬
gerinnen gebildet hat. Ja, eine Schule, eine Schule! Unsere italie¬
nische Oper und unsere Singakademie dazu könnten wir für eine
gute Schule hingeben, und ich glaube, wir würden immer noch einen
guten Tausch machen. Die Frau Gräfin von Rossi, Gemahlin des
königlich sardinischen Gesandten am hiesigen Hofe, auch jetzt noch eine
schöne Frau und nach dem Urtheil derer, die Gelegenheit haben, sie
in ihren Zirkeln zu hören, eine ausgezeichnete Sängerin, saß in der
Loge des diplomatischen Corps und erfreute sich an der neuen Norma,
welche sie augenscheinlich als ihre legitime Ebenbürtige und Nachfol¬
gerin anerkannte. Doch wollen wir dieser keinen Grafen wünschen,
damit sie nicht auch der Bühne vorzeitig entführt werde.

Die zweite Weihnachtsbescherung, mit welcher wir zwar nicht
gerade überrascht worden, die wir jedoch jedenfalls als ein Geschenk
aus schönen Handen betrachten dürfen, ist der dramatisirte Thomas
Thurnau von Madame Birch-Pfeiffer, der, trotzdem daß beide Ver¬
fasserinnen, des Romans wie des Dramas, in Berlin leben, hier spa¬
ter als auf mehreren anderen Bühnen zur Darstellung gekommen.

Herr von Küstner hatte die Aufmerksamkeit gehabt, Madame
Paalzow und deren Bruder, den Geschichtsmaler Professor Wach, zu
dieser Aufführung besonders einzuladen, und Erstere hatte also die
Genugthuung -- oder vielleicht auch das schmerzliche Gefühl -- die
Gestalten ihres Romans in dramatischer Verkörperung vor sich zu se¬
hen. Die Besetzung war die beste, die unsere Bühne zu liefern ver¬
mag, und diese hat sich jetzt allerdings durch das Engagement der
Herren Hendrichs und Hopp" etwas regenerirt. Madame Crelinger
gab die Maria Theresia; -- denken Sie sich, man wagt es hier, die
Urgroßmutter des regierenden Kaisers auf die Bühne zu bringen, und
-- was vielleicht noch mehr zu verwundern -- bis jetzt ist noch nicht
bekannt, daß der kaiserlich österreichische Gesandte dagegen reclamirt
habe. Denn es sind ja die verschiedenen deutschen Gesandten bei den
verschiedenen deutschen Höfen beglaubigt, um darüber zu wachen, daß
an den verschiedenen deutschen Höfen die Rücksichten alle beobachtet
werden, die die verschiedenen deutschen Höfe gegen einander zu nehmen
haben. Allerdings gehört dazu vornehmlich und hauptsachlich, daß in
den Blattern der verschiedenen deutschen Lander Nichts gedruckt werde,
was irgend einem deutschen Hofe unangenehm sein könne, weshalb
auch das Aeitungslesen zu den wichtigsten Functionen der verschiedenen
deutschen Gesandtschaften an den verschiedenen deutschen Höfen gezahlt
wird, aber auch der Theaterbesuch ist den Ersteren wegen der möglichen


sie unseren Sängerinnen in neuester Zeit ganz fremd geworden zu
sein scheint. Gewiß sind in Deutschland seit zehn oder zwanzig Jah¬
ren die guten Stimmen nicht ausgerottet, gewiß würde sich auch heute
noch eine Kehle wie die der Milder, der Schechner, der Sontag fin¬
den lassen, wenn nur auch die Schule sich finden ließe, die diese Sän¬
gerinnen gebildet hat. Ja, eine Schule, eine Schule! Unsere italie¬
nische Oper und unsere Singakademie dazu könnten wir für eine
gute Schule hingeben, und ich glaube, wir würden immer noch einen
guten Tausch machen. Die Frau Gräfin von Rossi, Gemahlin des
königlich sardinischen Gesandten am hiesigen Hofe, auch jetzt noch eine
schöne Frau und nach dem Urtheil derer, die Gelegenheit haben, sie
in ihren Zirkeln zu hören, eine ausgezeichnete Sängerin, saß in der
Loge des diplomatischen Corps und erfreute sich an der neuen Norma,
welche sie augenscheinlich als ihre legitime Ebenbürtige und Nachfol¬
gerin anerkannte. Doch wollen wir dieser keinen Grafen wünschen,
damit sie nicht auch der Bühne vorzeitig entführt werde.

Die zweite Weihnachtsbescherung, mit welcher wir zwar nicht
gerade überrascht worden, die wir jedoch jedenfalls als ein Geschenk
aus schönen Handen betrachten dürfen, ist der dramatisirte Thomas
Thurnau von Madame Birch-Pfeiffer, der, trotzdem daß beide Ver¬
fasserinnen, des Romans wie des Dramas, in Berlin leben, hier spa¬
ter als auf mehreren anderen Bühnen zur Darstellung gekommen.

Herr von Küstner hatte die Aufmerksamkeit gehabt, Madame
Paalzow und deren Bruder, den Geschichtsmaler Professor Wach, zu
dieser Aufführung besonders einzuladen, und Erstere hatte also die
Genugthuung — oder vielleicht auch das schmerzliche Gefühl — die
Gestalten ihres Romans in dramatischer Verkörperung vor sich zu se¬
hen. Die Besetzung war die beste, die unsere Bühne zu liefern ver¬
mag, und diese hat sich jetzt allerdings durch das Engagement der
Herren Hendrichs und Hopp« etwas regenerirt. Madame Crelinger
gab die Maria Theresia; — denken Sie sich, man wagt es hier, die
Urgroßmutter des regierenden Kaisers auf die Bühne zu bringen, und
— was vielleicht noch mehr zu verwundern — bis jetzt ist noch nicht
bekannt, daß der kaiserlich österreichische Gesandte dagegen reclamirt
habe. Denn es sind ja die verschiedenen deutschen Gesandten bei den
verschiedenen deutschen Höfen beglaubigt, um darüber zu wachen, daß
an den verschiedenen deutschen Höfen die Rücksichten alle beobachtet
werden, die die verschiedenen deutschen Höfe gegen einander zu nehmen
haben. Allerdings gehört dazu vornehmlich und hauptsachlich, daß in
den Blattern der verschiedenen deutschen Lander Nichts gedruckt werde,
was irgend einem deutschen Hofe unangenehm sein könne, weshalb
auch das Aeitungslesen zu den wichtigsten Functionen der verschiedenen
deutschen Gesandtschaften an den verschiedenen deutschen Höfen gezahlt
wird, aber auch der Theaterbesuch ist den Ersteren wegen der möglichen


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[0090] sie unseren Sängerinnen in neuester Zeit ganz fremd geworden zu sein scheint. Gewiß sind in Deutschland seit zehn oder zwanzig Jah¬ ren die guten Stimmen nicht ausgerottet, gewiß würde sich auch heute noch eine Kehle wie die der Milder, der Schechner, der Sontag fin¬ den lassen, wenn nur auch die Schule sich finden ließe, die diese Sän¬ gerinnen gebildet hat. Ja, eine Schule, eine Schule! Unsere italie¬ nische Oper und unsere Singakademie dazu könnten wir für eine gute Schule hingeben, und ich glaube, wir würden immer noch einen guten Tausch machen. Die Frau Gräfin von Rossi, Gemahlin des königlich sardinischen Gesandten am hiesigen Hofe, auch jetzt noch eine schöne Frau und nach dem Urtheil derer, die Gelegenheit haben, sie in ihren Zirkeln zu hören, eine ausgezeichnete Sängerin, saß in der Loge des diplomatischen Corps und erfreute sich an der neuen Norma, welche sie augenscheinlich als ihre legitime Ebenbürtige und Nachfol¬ gerin anerkannte. Doch wollen wir dieser keinen Grafen wünschen, damit sie nicht auch der Bühne vorzeitig entführt werde. Die zweite Weihnachtsbescherung, mit welcher wir zwar nicht gerade überrascht worden, die wir jedoch jedenfalls als ein Geschenk aus schönen Handen betrachten dürfen, ist der dramatisirte Thomas Thurnau von Madame Birch-Pfeiffer, der, trotzdem daß beide Ver¬ fasserinnen, des Romans wie des Dramas, in Berlin leben, hier spa¬ ter als auf mehreren anderen Bühnen zur Darstellung gekommen. Herr von Küstner hatte die Aufmerksamkeit gehabt, Madame Paalzow und deren Bruder, den Geschichtsmaler Professor Wach, zu dieser Aufführung besonders einzuladen, und Erstere hatte also die Genugthuung — oder vielleicht auch das schmerzliche Gefühl — die Gestalten ihres Romans in dramatischer Verkörperung vor sich zu se¬ hen. Die Besetzung war die beste, die unsere Bühne zu liefern ver¬ mag, und diese hat sich jetzt allerdings durch das Engagement der Herren Hendrichs und Hopp« etwas regenerirt. Madame Crelinger gab die Maria Theresia; — denken Sie sich, man wagt es hier, die Urgroßmutter des regierenden Kaisers auf die Bühne zu bringen, und — was vielleicht noch mehr zu verwundern — bis jetzt ist noch nicht bekannt, daß der kaiserlich österreichische Gesandte dagegen reclamirt habe. Denn es sind ja die verschiedenen deutschen Gesandten bei den verschiedenen deutschen Höfen beglaubigt, um darüber zu wachen, daß an den verschiedenen deutschen Höfen die Rücksichten alle beobachtet werden, die die verschiedenen deutschen Höfe gegen einander zu nehmen haben. Allerdings gehört dazu vornehmlich und hauptsachlich, daß in den Blattern der verschiedenen deutschen Lander Nichts gedruckt werde, was irgend einem deutschen Hofe unangenehm sein könne, weshalb auch das Aeitungslesen zu den wichtigsten Functionen der verschiedenen deutschen Gesandtschaften an den verschiedenen deutschen Höfen gezahlt wird, aber auch der Theaterbesuch ist den Ersteren wegen der möglichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/90>, abgerufen am 22.07.2024.