Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

zu einer der ersten Pflichten, dieselbe in ihren einzelnen Punkten ausein-
anderzusetzen. Mau wird dann sehen, wie geschickt man oft das Un¬
wahre durch daS Wahre zu bemänteln suchte, wie man ren Wolf in die
Lammcöhaut steckte. Kein falscher Schein, keine ehrliche Miene darf
den Beobachter täuschen, kein noch so schöner Name darf ihn in Ver¬
wirrung setzen, kein Winkclzug und kein Versteck ihm unbemerkt blei¬
ben. Sorgfältig muß er das wirklich Gute aussondern, um alsdann
Wahrheit und Dichtung einander gegenüberstellen zu können.

Aber nicht blos bei den Parteien, sondern auch im ganzen Trei¬
ben der Jetztzeit läßt sich so manche Lüge nachweisen, meistentheils
Erzeugniß des für Unsere Zeit so charakteristischen Jndustrialismus.
Die Industrie hat sich nicht blos des Materiellen, sondern auch der
Idee bemächtigt. Sie, die in Anfertigung von Büchern ihren Lebens¬
unterhalt sucht, die die Wissenschaft zur Milchkuh macht, ist auch eine
Lüge, denn sie bietet Schein für Wahrheit. An ihr hat es nicht ge¬
legen, wenn sie keinen größer" Platz einnimmt, als ihr bis jetzt Gott¬
lob geworden, der gesunde Menschenverstand läßt sich soweit noch
nicht berücken. Aber eine wahrhafte Industrie wird mit den politi¬
schen Ideen selbst oft getrieben. Um bestimmte Zwecke zu erreichen,
braucht man uns Deutschen nur den Anschein einer unsern Wün¬
schen, unsern Bedürfnissen (leider haben wir deren gar viele) ange¬
messenen Idee vor Augen zu führen, so sind wir mit wahrhaft süd¬
ländischer Gluth bereit, sie zu verarbeiten, zu erweitern, zum Erken¬
nungswort einer Partei zu bilden, sie selbst wesentlich zur Lüge zu
stempeln. Manche dieser zuweilen sehr beliebten Ideen sind als Lü¬
gen geboren, sie sagen entweder an sich etwas Unwahres, oder noch
öfter, ein ganz Anderes verbirgt sich hinter der genommenen Maske.
Am vortheilhaftesten stehen sich die politischen Blätter dabei, (nicht
immer grade deren Leser), da gibt es lange Tiraden, Abhandlungen,
Gedanken, Meinungen, Ideen, Vorschläge, Angriffe, Wünsche, Alles>
was das Herz nur wünschen kann. Da wird das aufgegriffene
Wort gequetscht wie ein nasser Schwamm, gedreht, in die Länge ge¬
zogen; man fühlt sich bedrückt und geängstigt von dem Strudel, und
wenn man meint, es habe sein Ende, so kommt ein nachträgliches
Wort, ein gutgemeinter Gedanke, die Sache zu lassen, was natürlich
die Folge hat, daß man beweist, die Sache dürfe noch nicht gelassen
werden. Wir Deutschen streben nach poli/t/cher Bildung, wir haben


zu einer der ersten Pflichten, dieselbe in ihren einzelnen Punkten ausein-
anderzusetzen. Mau wird dann sehen, wie geschickt man oft das Un¬
wahre durch daS Wahre zu bemänteln suchte, wie man ren Wolf in die
Lammcöhaut steckte. Kein falscher Schein, keine ehrliche Miene darf
den Beobachter täuschen, kein noch so schöner Name darf ihn in Ver¬
wirrung setzen, kein Winkclzug und kein Versteck ihm unbemerkt blei¬
ben. Sorgfältig muß er das wirklich Gute aussondern, um alsdann
Wahrheit und Dichtung einander gegenüberstellen zu können.

Aber nicht blos bei den Parteien, sondern auch im ganzen Trei¬
ben der Jetztzeit läßt sich so manche Lüge nachweisen, meistentheils
Erzeugniß des für Unsere Zeit so charakteristischen Jndustrialismus.
Die Industrie hat sich nicht blos des Materiellen, sondern auch der
Idee bemächtigt. Sie, die in Anfertigung von Büchern ihren Lebens¬
unterhalt sucht, die die Wissenschaft zur Milchkuh macht, ist auch eine
Lüge, denn sie bietet Schein für Wahrheit. An ihr hat es nicht ge¬
legen, wenn sie keinen größer» Platz einnimmt, als ihr bis jetzt Gott¬
lob geworden, der gesunde Menschenverstand läßt sich soweit noch
nicht berücken. Aber eine wahrhafte Industrie wird mit den politi¬
schen Ideen selbst oft getrieben. Um bestimmte Zwecke zu erreichen,
braucht man uns Deutschen nur den Anschein einer unsern Wün¬
schen, unsern Bedürfnissen (leider haben wir deren gar viele) ange¬
messenen Idee vor Augen zu führen, so sind wir mit wahrhaft süd¬
ländischer Gluth bereit, sie zu verarbeiten, zu erweitern, zum Erken¬
nungswort einer Partei zu bilden, sie selbst wesentlich zur Lüge zu
stempeln. Manche dieser zuweilen sehr beliebten Ideen sind als Lü¬
gen geboren, sie sagen entweder an sich etwas Unwahres, oder noch
öfter, ein ganz Anderes verbirgt sich hinter der genommenen Maske.
Am vortheilhaftesten stehen sich die politischen Blätter dabei, (nicht
immer grade deren Leser), da gibt es lange Tiraden, Abhandlungen,
Gedanken, Meinungen, Ideen, Vorschläge, Angriffe, Wünsche, Alles>
was das Herz nur wünschen kann. Da wird das aufgegriffene
Wort gequetscht wie ein nasser Schwamm, gedreht, in die Länge ge¬
zogen; man fühlt sich bedrückt und geängstigt von dem Strudel, und
wenn man meint, es habe sein Ende, so kommt ein nachträgliches
Wort, ein gutgemeinter Gedanke, die Sache zu lassen, was natürlich
die Folge hat, daß man beweist, die Sache dürfe noch nicht gelassen
werden. Wir Deutschen streben nach poli/t/cher Bildung, wir haben


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0608" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/270023"/>
            <p xml:id="ID_1728" prev="#ID_1727"> zu einer der ersten Pflichten, dieselbe in ihren einzelnen Punkten ausein-<lb/>
anderzusetzen. Mau wird dann sehen, wie geschickt man oft das Un¬<lb/>
wahre durch daS Wahre zu bemänteln suchte, wie man ren Wolf in die<lb/>
Lammcöhaut steckte. Kein falscher Schein, keine ehrliche Miene darf<lb/>
den Beobachter täuschen, kein noch so schöner Name darf ihn in Ver¬<lb/>
wirrung setzen, kein Winkclzug und kein Versteck ihm unbemerkt blei¬<lb/>
ben. Sorgfältig muß er das wirklich Gute aussondern, um alsdann<lb/>
Wahrheit und Dichtung einander gegenüberstellen zu können.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1729" next="#ID_1730"> Aber nicht blos bei den Parteien, sondern auch im ganzen Trei¬<lb/>
ben der Jetztzeit läßt sich so manche Lüge nachweisen, meistentheils<lb/>
Erzeugniß des für Unsere Zeit so charakteristischen Jndustrialismus.<lb/>
Die Industrie hat sich nicht blos des Materiellen, sondern auch der<lb/>
Idee bemächtigt. Sie, die in Anfertigung von Büchern ihren Lebens¬<lb/>
unterhalt sucht, die die Wissenschaft zur Milchkuh macht, ist auch eine<lb/>
Lüge, denn sie bietet Schein für Wahrheit. An ihr hat es nicht ge¬<lb/>
legen, wenn sie keinen größer» Platz einnimmt, als ihr bis jetzt Gott¬<lb/>
lob geworden, der gesunde Menschenverstand läßt sich soweit noch<lb/>
nicht berücken. Aber eine wahrhafte Industrie wird mit den politi¬<lb/>
schen Ideen selbst oft getrieben. Um bestimmte Zwecke zu erreichen,<lb/>
braucht man uns Deutschen nur den Anschein einer unsern Wün¬<lb/>
schen, unsern Bedürfnissen (leider haben wir deren gar viele) ange¬<lb/>
messenen Idee vor Augen zu führen, so sind wir mit wahrhaft süd¬<lb/>
ländischer Gluth bereit, sie zu verarbeiten, zu erweitern, zum Erken¬<lb/>
nungswort einer Partei zu bilden, sie selbst wesentlich zur Lüge zu<lb/>
stempeln. Manche dieser zuweilen sehr beliebten Ideen sind als Lü¬<lb/>
gen geboren, sie sagen entweder an sich etwas Unwahres, oder noch<lb/>
öfter, ein ganz Anderes verbirgt sich hinter der genommenen Maske.<lb/>
Am vortheilhaftesten stehen sich die politischen Blätter dabei, (nicht<lb/>
immer grade deren Leser), da gibt es lange Tiraden, Abhandlungen,<lb/>
Gedanken, Meinungen, Ideen, Vorschläge, Angriffe, Wünsche, Alles&gt;<lb/>
was das Herz nur wünschen kann. Da wird das aufgegriffene<lb/>
Wort gequetscht wie ein nasser Schwamm, gedreht, in die Länge ge¬<lb/>
zogen; man fühlt sich bedrückt und geängstigt von dem Strudel, und<lb/>
wenn man meint, es habe sein Ende, so kommt ein nachträgliches<lb/>
Wort, ein gutgemeinter Gedanke, die Sache zu lassen, was natürlich<lb/>
die Folge hat, daß man beweist, die Sache dürfe noch nicht gelassen<lb/>
werden. Wir Deutschen streben nach poli/t/cher Bildung, wir haben</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0608] zu einer der ersten Pflichten, dieselbe in ihren einzelnen Punkten ausein- anderzusetzen. Mau wird dann sehen, wie geschickt man oft das Un¬ wahre durch daS Wahre zu bemänteln suchte, wie man ren Wolf in die Lammcöhaut steckte. Kein falscher Schein, keine ehrliche Miene darf den Beobachter täuschen, kein noch so schöner Name darf ihn in Ver¬ wirrung setzen, kein Winkclzug und kein Versteck ihm unbemerkt blei¬ ben. Sorgfältig muß er das wirklich Gute aussondern, um alsdann Wahrheit und Dichtung einander gegenüberstellen zu können. Aber nicht blos bei den Parteien, sondern auch im ganzen Trei¬ ben der Jetztzeit läßt sich so manche Lüge nachweisen, meistentheils Erzeugniß des für Unsere Zeit so charakteristischen Jndustrialismus. Die Industrie hat sich nicht blos des Materiellen, sondern auch der Idee bemächtigt. Sie, die in Anfertigung von Büchern ihren Lebens¬ unterhalt sucht, die die Wissenschaft zur Milchkuh macht, ist auch eine Lüge, denn sie bietet Schein für Wahrheit. An ihr hat es nicht ge¬ legen, wenn sie keinen größer» Platz einnimmt, als ihr bis jetzt Gott¬ lob geworden, der gesunde Menschenverstand läßt sich soweit noch nicht berücken. Aber eine wahrhafte Industrie wird mit den politi¬ schen Ideen selbst oft getrieben. Um bestimmte Zwecke zu erreichen, braucht man uns Deutschen nur den Anschein einer unsern Wün¬ schen, unsern Bedürfnissen (leider haben wir deren gar viele) ange¬ messenen Idee vor Augen zu führen, so sind wir mit wahrhaft süd¬ ländischer Gluth bereit, sie zu verarbeiten, zu erweitern, zum Erken¬ nungswort einer Partei zu bilden, sie selbst wesentlich zur Lüge zu stempeln. Manche dieser zuweilen sehr beliebten Ideen sind als Lü¬ gen geboren, sie sagen entweder an sich etwas Unwahres, oder noch öfter, ein ganz Anderes verbirgt sich hinter der genommenen Maske. Am vortheilhaftesten stehen sich die politischen Blätter dabei, (nicht immer grade deren Leser), da gibt es lange Tiraden, Abhandlungen, Gedanken, Meinungen, Ideen, Vorschläge, Angriffe, Wünsche, Alles> was das Herz nur wünschen kann. Da wird das aufgegriffene Wort gequetscht wie ein nasser Schwamm, gedreht, in die Länge ge¬ zogen; man fühlt sich bedrückt und geängstigt von dem Strudel, und wenn man meint, es habe sein Ende, so kommt ein nachträgliches Wort, ein gutgemeinter Gedanke, die Sache zu lassen, was natürlich die Folge hat, daß man beweist, die Sache dürfe noch nicht gelassen werden. Wir Deutschen streben nach poli/t/cher Bildung, wir haben

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/608
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/608>, abgerufen am 22.07.2024.