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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Lügen unserer Zeit sich darstellen -- wer kann sie alle zählen? --
Aber die bisherigen Andeutungen genügen schon, um zu sehen, wie
groß und umfassend das Feld ist, das sie einnehmen, wie schwer,
aber auch wie nöthig es ist, sie zu bearbeiten. Ob alle Parteien
bei einer solchen Arbeit ihre Rechnung finden würden, ist um so we¬
niger zu vermuthen, da fast eine jede ihre besondere Lüge besitzt, sei
es durch freie Wahl, sei es durch andere Lügen des Gegenparts. --


II.

Wenn man sich zum Geschichtschreiber der Lügen unserer Zeit
machen will, so ist es nur halbe Arbeit oder eigentlich gar Nichts
damit gethan, sie zu benennen, zu schildern und etwa ihre Verzwei¬
gungen im Leben nachzuweisen; die Hauptsache ist vielmehr, so pa¬
radox dies auch klingen mag, zu untersuchen, was daran wahr sei.
So wie man Erzählungen fabriciren kann, voll von Wunderbarem
und Abenteuerlichen, und doch noch einiges Wahre dazwischen men¬
gen, wo Beides, Lüge und Wahrheit, genau von einander sich tren¬
nen lassen, so läßt sich dasselbe Verfahren in gewisser Rücksicht auch
auf die Lügen anwenden, von welchen hier die Rede ist. Zwar sind
es keine Thatsachen, selbst oft nicht einmal einzelne Meinungen, es
sind nur gewisse Begriffe, an denen unsere Zeit bestimmte Jdeenver-
bindungen, oft ganze Systeme anknüpft. Darum sind es specifisch
noch keine Lügen, nur in bestimmten Beziehungen werden sie zu sol¬
chen, dann sind es aber auch wahre, eigentliche Lügen. In diesen
Umständen aber liegt es, daß eine solche Lüge eine Verwandtschaft
mit der Wahrheit hat, d. h. daß derselbe hier wahre Begriff dort
unwahr wird. Grade hierin aber liegt die Bedeutsamkeit dieser Lü¬
gen, denn hierdurch erst erhalten sie einen Werth. So erst wird es
möglich, sie theils gar nicht für Lügen zu halten, theils ihnen, wenn
sie ihr Wesen etwas deutlicher zeigen, immer noch einen Schein der
Wahrheit geben zu können. Nichts hat die Selbsttäuschung in poli¬
tischen Begriffen so sehr befördert, als dieser Umstand. Man hat
sich an die Seite des Dinges gehalten, die die liebste war, und ließ
das Andere in einem geheimnißvollen Dunkel, grade wie der Vogel
Strauß, der, wenn er seine Verfolger nicht mehr sieht, auch sich für
gesichert hält.

Diese Verbindung der Lüge mit der Wahrheit macht es daher


Erenzbvtcn, 1S4L. I. 77

Lügen unserer Zeit sich darstellen — wer kann sie alle zählen? —
Aber die bisherigen Andeutungen genügen schon, um zu sehen, wie
groß und umfassend das Feld ist, das sie einnehmen, wie schwer,
aber auch wie nöthig es ist, sie zu bearbeiten. Ob alle Parteien
bei einer solchen Arbeit ihre Rechnung finden würden, ist um so we¬
niger zu vermuthen, da fast eine jede ihre besondere Lüge besitzt, sei
es durch freie Wahl, sei es durch andere Lügen des Gegenparts. —


II.

Wenn man sich zum Geschichtschreiber der Lügen unserer Zeit
machen will, so ist es nur halbe Arbeit oder eigentlich gar Nichts
damit gethan, sie zu benennen, zu schildern und etwa ihre Verzwei¬
gungen im Leben nachzuweisen; die Hauptsache ist vielmehr, so pa¬
radox dies auch klingen mag, zu untersuchen, was daran wahr sei.
So wie man Erzählungen fabriciren kann, voll von Wunderbarem
und Abenteuerlichen, und doch noch einiges Wahre dazwischen men¬
gen, wo Beides, Lüge und Wahrheit, genau von einander sich tren¬
nen lassen, so läßt sich dasselbe Verfahren in gewisser Rücksicht auch
auf die Lügen anwenden, von welchen hier die Rede ist. Zwar sind
es keine Thatsachen, selbst oft nicht einmal einzelne Meinungen, es
sind nur gewisse Begriffe, an denen unsere Zeit bestimmte Jdeenver-
bindungen, oft ganze Systeme anknüpft. Darum sind es specifisch
noch keine Lügen, nur in bestimmten Beziehungen werden sie zu sol¬
chen, dann sind es aber auch wahre, eigentliche Lügen. In diesen
Umständen aber liegt es, daß eine solche Lüge eine Verwandtschaft
mit der Wahrheit hat, d. h. daß derselbe hier wahre Begriff dort
unwahr wird. Grade hierin aber liegt die Bedeutsamkeit dieser Lü¬
gen, denn hierdurch erst erhalten sie einen Werth. So erst wird es
möglich, sie theils gar nicht für Lügen zu halten, theils ihnen, wenn
sie ihr Wesen etwas deutlicher zeigen, immer noch einen Schein der
Wahrheit geben zu können. Nichts hat die Selbsttäuschung in poli¬
tischen Begriffen so sehr befördert, als dieser Umstand. Man hat
sich an die Seite des Dinges gehalten, die die liebste war, und ließ
das Andere in einem geheimnißvollen Dunkel, grade wie der Vogel
Strauß, der, wenn er seine Verfolger nicht mehr sieht, auch sich für
gesichert hält.

Diese Verbindung der Lüge mit der Wahrheit macht es daher


Erenzbvtcn, 1S4L. I. 77
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[0607] Lügen unserer Zeit sich darstellen — wer kann sie alle zählen? — Aber die bisherigen Andeutungen genügen schon, um zu sehen, wie groß und umfassend das Feld ist, das sie einnehmen, wie schwer, aber auch wie nöthig es ist, sie zu bearbeiten. Ob alle Parteien bei einer solchen Arbeit ihre Rechnung finden würden, ist um so we¬ niger zu vermuthen, da fast eine jede ihre besondere Lüge besitzt, sei es durch freie Wahl, sei es durch andere Lügen des Gegenparts. — II. Wenn man sich zum Geschichtschreiber der Lügen unserer Zeit machen will, so ist es nur halbe Arbeit oder eigentlich gar Nichts damit gethan, sie zu benennen, zu schildern und etwa ihre Verzwei¬ gungen im Leben nachzuweisen; die Hauptsache ist vielmehr, so pa¬ radox dies auch klingen mag, zu untersuchen, was daran wahr sei. So wie man Erzählungen fabriciren kann, voll von Wunderbarem und Abenteuerlichen, und doch noch einiges Wahre dazwischen men¬ gen, wo Beides, Lüge und Wahrheit, genau von einander sich tren¬ nen lassen, so läßt sich dasselbe Verfahren in gewisser Rücksicht auch auf die Lügen anwenden, von welchen hier die Rede ist. Zwar sind es keine Thatsachen, selbst oft nicht einmal einzelne Meinungen, es sind nur gewisse Begriffe, an denen unsere Zeit bestimmte Jdeenver- bindungen, oft ganze Systeme anknüpft. Darum sind es specifisch noch keine Lügen, nur in bestimmten Beziehungen werden sie zu sol¬ chen, dann sind es aber auch wahre, eigentliche Lügen. In diesen Umständen aber liegt es, daß eine solche Lüge eine Verwandtschaft mit der Wahrheit hat, d. h. daß derselbe hier wahre Begriff dort unwahr wird. Grade hierin aber liegt die Bedeutsamkeit dieser Lü¬ gen, denn hierdurch erst erhalten sie einen Werth. So erst wird es möglich, sie theils gar nicht für Lügen zu halten, theils ihnen, wenn sie ihr Wesen etwas deutlicher zeigen, immer noch einen Schein der Wahrheit geben zu können. Nichts hat die Selbsttäuschung in poli¬ tischen Begriffen so sehr befördert, als dieser Umstand. Man hat sich an die Seite des Dinges gehalten, die die liebste war, und ließ das Andere in einem geheimnißvollen Dunkel, grade wie der Vogel Strauß, der, wenn er seine Verfolger nicht mehr sieht, auch sich für gesichert hält. Diese Verbindung der Lüge mit der Wahrheit macht es daher Erenzbvtcn, 1S4L. I. 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/607>, abgerufen am 22.07.2024.