Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

Hölzbedarf aus dem rings umgebenden Walde über dessen Fläche
auf vielfach sich kreuzenden Bahnen. So verging der Januar, der
Februar und der März des neuen Jahres. Das Meer war bereits
wieder völlig eisfrei; das Eis des Sees dagegen rührte sich nicht,
aber dennoch stand dessen Aufbruch allstündlich zu befürchten. Und
"och waren so viele Holzfrachten auf dem bequemen Wege zu för¬
dern. Darum verkehren die kleinen grauen Letten mit den kleinen
Pferden und den kleinen Schlitten jetzt nur noch emsiger darauf und
vom Morgen bis zur Nacht ist die Fläche von ihnen überdeckt. So
war's auch an einem sonnenhellen Apriltage. Da auf einmal don¬
nert'S, als ob eine Batterie all ihre Feuerschlünde öffnete, und in
tausend Springfluthen schießt das Wasser zwischen den Eisschollen
hervor. Ein allgemeiner Schrei des Entsetzens durchdringt die Lust
und im rasendsten Nossclauf jagen alle Schlitten gegen den Wald¬
saum hin. Kaum aber hat der letzte den See verlassen, so heben
sich Millionen von Eiszacken aus der Fläche und dann wogen und
branden urplötzlich die Schollen, wie vom furchtbarsten Sturm auf¬
gerührt. Dabei steigt das Wasser immer höher an dem Uferrande
herauf, bis zur Höhe jenes kleinen Abzuggrabens. Und dabei über¬
stürzen die Fluthen sich immer wilder und es zischt und eS braust
und es drängt und es wallt und dort, wo der Kanal entstehen sollte,
weicht der Wald auf mehr denn hundert Schritt in der Breite. Un¬
terwühlt stürzen die Bäume kopfüber nieder in die drängenden Wel¬
len und diesen drängen neue nach und mit ihnen rennen die Schol¬
len gegen die Bresche. Bald weicht das ganze trennende Land zwi¬
schen Meerbusen und See. Mit ungeheuerster Wucht schießen die em¬
pörten Wasser nach. Ein Naturkampf entsteht, dessen Tosen und Ge¬
brüll man hinauf bis Domesnäs vernimmt und hinunter bis Don¬
dangen, jedes in gerader Richtung mehr denn zwei Meilen entfernt.
Und endlich hat das Wasser sich eine Furt bis hinüber nach dem
Meerbusen gerissen und ergießt sich in diesen mit donnerndem Schwall.
Binnen einer Stunde liegt der ganze große Deewingsee trocken; doch
nach Wochen stand noch eine waldige Insel, das ausgeschobene Land¬
stück, weit draußen inmitten des Rigischen Meerbusens. Mit einer
einzigen Kraftanstrengung hatte die Natur Das vollendet, wozu viel
hundert Menschenhände Jahre verbraucht hätten. Und auch wunder¬
sam regelmäßig arbeitete das losgekettete Element. Denn schnurge-


65"

Hölzbedarf aus dem rings umgebenden Walde über dessen Fläche
auf vielfach sich kreuzenden Bahnen. So verging der Januar, der
Februar und der März des neuen Jahres. Das Meer war bereits
wieder völlig eisfrei; das Eis des Sees dagegen rührte sich nicht,
aber dennoch stand dessen Aufbruch allstündlich zu befürchten. Und
«och waren so viele Holzfrachten auf dem bequemen Wege zu för¬
dern. Darum verkehren die kleinen grauen Letten mit den kleinen
Pferden und den kleinen Schlitten jetzt nur noch emsiger darauf und
vom Morgen bis zur Nacht ist die Fläche von ihnen überdeckt. So
war's auch an einem sonnenhellen Apriltage. Da auf einmal don¬
nert'S, als ob eine Batterie all ihre Feuerschlünde öffnete, und in
tausend Springfluthen schießt das Wasser zwischen den Eisschollen
hervor. Ein allgemeiner Schrei des Entsetzens durchdringt die Lust
und im rasendsten Nossclauf jagen alle Schlitten gegen den Wald¬
saum hin. Kaum aber hat der letzte den See verlassen, so heben
sich Millionen von Eiszacken aus der Fläche und dann wogen und
branden urplötzlich die Schollen, wie vom furchtbarsten Sturm auf¬
gerührt. Dabei steigt das Wasser immer höher an dem Uferrande
herauf, bis zur Höhe jenes kleinen Abzuggrabens. Und dabei über¬
stürzen die Fluthen sich immer wilder und es zischt und eS braust
und es drängt und es wallt und dort, wo der Kanal entstehen sollte,
weicht der Wald auf mehr denn hundert Schritt in der Breite. Un¬
terwühlt stürzen die Bäume kopfüber nieder in die drängenden Wel¬
len und diesen drängen neue nach und mit ihnen rennen die Schol¬
len gegen die Bresche. Bald weicht das ganze trennende Land zwi¬
schen Meerbusen und See. Mit ungeheuerster Wucht schießen die em¬
pörten Wasser nach. Ein Naturkampf entsteht, dessen Tosen und Ge¬
brüll man hinauf bis Domesnäs vernimmt und hinunter bis Don¬
dangen, jedes in gerader Richtung mehr denn zwei Meilen entfernt.
Und endlich hat das Wasser sich eine Furt bis hinüber nach dem
Meerbusen gerissen und ergießt sich in diesen mit donnerndem Schwall.
Binnen einer Stunde liegt der ganze große Deewingsee trocken; doch
nach Wochen stand noch eine waldige Insel, das ausgeschobene Land¬
stück, weit draußen inmitten des Rigischen Meerbusens. Mit einer
einzigen Kraftanstrengung hatte die Natur Das vollendet, wozu viel
hundert Menschenhände Jahre verbraucht hätten. Und auch wunder¬
sam regelmäßig arbeitete das losgekettete Element. Denn schnurge-


65»
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0517" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/269932"/>
            <p xml:id="ID_1414" prev="#ID_1413" next="#ID_1415"> Hölzbedarf aus dem rings umgebenden Walde über dessen Fläche<lb/>
auf vielfach sich kreuzenden Bahnen. So verging der Januar, der<lb/>
Februar und der März des neuen Jahres. Das Meer war bereits<lb/>
wieder völlig eisfrei; das Eis des Sees dagegen rührte sich nicht,<lb/>
aber dennoch stand dessen Aufbruch allstündlich zu befürchten. Und<lb/>
«och waren so viele Holzfrachten auf dem bequemen Wege zu för¬<lb/>
dern. Darum verkehren die kleinen grauen Letten mit den kleinen<lb/>
Pferden und den kleinen Schlitten jetzt nur noch emsiger darauf und<lb/>
vom Morgen bis zur Nacht ist die Fläche von ihnen überdeckt. So<lb/>
war's auch an einem sonnenhellen Apriltage. Da auf einmal don¬<lb/>
nert'S, als ob eine Batterie all ihre Feuerschlünde öffnete, und in<lb/>
tausend Springfluthen schießt das Wasser zwischen den Eisschollen<lb/>
hervor. Ein allgemeiner Schrei des Entsetzens durchdringt die Lust<lb/>
und im rasendsten Nossclauf jagen alle Schlitten gegen den Wald¬<lb/>
saum hin. Kaum aber hat der letzte den See verlassen, so heben<lb/>
sich Millionen von Eiszacken aus der Fläche und dann wogen und<lb/>
branden urplötzlich die Schollen, wie vom furchtbarsten Sturm auf¬<lb/>
gerührt. Dabei steigt das Wasser immer höher an dem Uferrande<lb/>
herauf, bis zur Höhe jenes kleinen Abzuggrabens. Und dabei über¬<lb/>
stürzen die Fluthen sich immer wilder und es zischt und eS braust<lb/>
und es drängt und es wallt und dort, wo der Kanal entstehen sollte,<lb/>
weicht der Wald auf mehr denn hundert Schritt in der Breite. Un¬<lb/>
terwühlt stürzen die Bäume kopfüber nieder in die drängenden Wel¬<lb/>
len und diesen drängen neue nach und mit ihnen rennen die Schol¬<lb/>
len gegen die Bresche. Bald weicht das ganze trennende Land zwi¬<lb/>
schen Meerbusen und See. Mit ungeheuerster Wucht schießen die em¬<lb/>
pörten Wasser nach. Ein Naturkampf entsteht, dessen Tosen und Ge¬<lb/>
brüll man hinauf bis Domesnäs vernimmt und hinunter bis Don¬<lb/>
dangen, jedes in gerader Richtung mehr denn zwei Meilen entfernt.<lb/>
Und endlich hat das Wasser sich eine Furt bis hinüber nach dem<lb/>
Meerbusen gerissen und ergießt sich in diesen mit donnerndem Schwall.<lb/>
Binnen einer Stunde liegt der ganze große Deewingsee trocken; doch<lb/>
nach Wochen stand noch eine waldige Insel, das ausgeschobene Land¬<lb/>
stück, weit draußen inmitten des Rigischen Meerbusens. Mit einer<lb/>
einzigen Kraftanstrengung hatte die Natur Das vollendet, wozu viel<lb/>
hundert Menschenhände Jahre verbraucht hätten. Und auch wunder¬<lb/>
sam regelmäßig arbeitete das losgekettete Element. Denn schnurge-</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 65»</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0517] Hölzbedarf aus dem rings umgebenden Walde über dessen Fläche auf vielfach sich kreuzenden Bahnen. So verging der Januar, der Februar und der März des neuen Jahres. Das Meer war bereits wieder völlig eisfrei; das Eis des Sees dagegen rührte sich nicht, aber dennoch stand dessen Aufbruch allstündlich zu befürchten. Und «och waren so viele Holzfrachten auf dem bequemen Wege zu för¬ dern. Darum verkehren die kleinen grauen Letten mit den kleinen Pferden und den kleinen Schlitten jetzt nur noch emsiger darauf und vom Morgen bis zur Nacht ist die Fläche von ihnen überdeckt. So war's auch an einem sonnenhellen Apriltage. Da auf einmal don¬ nert'S, als ob eine Batterie all ihre Feuerschlünde öffnete, und in tausend Springfluthen schießt das Wasser zwischen den Eisschollen hervor. Ein allgemeiner Schrei des Entsetzens durchdringt die Lust und im rasendsten Nossclauf jagen alle Schlitten gegen den Wald¬ saum hin. Kaum aber hat der letzte den See verlassen, so heben sich Millionen von Eiszacken aus der Fläche und dann wogen und branden urplötzlich die Schollen, wie vom furchtbarsten Sturm auf¬ gerührt. Dabei steigt das Wasser immer höher an dem Uferrande herauf, bis zur Höhe jenes kleinen Abzuggrabens. Und dabei über¬ stürzen die Fluthen sich immer wilder und es zischt und eS braust und es drängt und es wallt und dort, wo der Kanal entstehen sollte, weicht der Wald auf mehr denn hundert Schritt in der Breite. Un¬ terwühlt stürzen die Bäume kopfüber nieder in die drängenden Wel¬ len und diesen drängen neue nach und mit ihnen rennen die Schol¬ len gegen die Bresche. Bald weicht das ganze trennende Land zwi¬ schen Meerbusen und See. Mit ungeheuerster Wucht schießen die em¬ pörten Wasser nach. Ein Naturkampf entsteht, dessen Tosen und Ge¬ brüll man hinauf bis Domesnäs vernimmt und hinunter bis Don¬ dangen, jedes in gerader Richtung mehr denn zwei Meilen entfernt. Und endlich hat das Wasser sich eine Furt bis hinüber nach dem Meerbusen gerissen und ergießt sich in diesen mit donnerndem Schwall. Binnen einer Stunde liegt der ganze große Deewingsee trocken; doch nach Wochen stand noch eine waldige Insel, das ausgeschobene Land¬ stück, weit draußen inmitten des Rigischen Meerbusens. Mit einer einzigen Kraftanstrengung hatte die Natur Das vollendet, wozu viel hundert Menschenhände Jahre verbraucht hätten. Und auch wunder¬ sam regelmäßig arbeitete das losgekettete Element. Denn schnurge- 65»

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/517
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/517>, abgerufen am 23.07.2024.