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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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schwendet er zum Ankaufe des Giftes aller uncultivirten Völker, des
Branntweins. Mehr noch als bei Letten und Eschen herrscht daher
unter den Liven die Trunksucht. Und dieses Laster hat sein Gepräge
auch ihrem Antlitz aufgedrückt. Ursprünglich scheint das Gesicht des
Liven dem des Finnen sehr ähnlich, wie auch ihre Sprache mit der
finnischen verwandt ist. Aber die kräftigen, wenn schon unschönen
Züge sind jetzt meistens verschwotten; dadurch erscheinen die Augen
klein und ihr Ausdruck trübe; die dicke Stumpfnase ist geröthet, die
Lippen Wülsten sich häßlich. Bei den Frauen ist die Breite der
Backenknochen bedeutend, die Stirn auch breit und niedrig. Das
stets bei Männern und Frauen hochblonde Haar hängt verwirrt und
halbkurz geschnitten, glanzlos um den Kopf, während die Letten ihr
langes Haar sorgfältig auf der Mitte der Stirn scheiteln und in
jener Form tragen, die unsere Haarkünstler u, la ^esus <^"ist tauf¬
ten. -- In ihren Sitten und Gebräuchen, in der Einrichtung ihrer
Häuser sind die Liven kaum mehr von den Letten des Meerbusen-
uferö zu scheiden. Aber als Nation trennen sie sich immer von ihnen
und häufige Schlägereien im "Kruge" sind die Manifestationen deö
aus alter Zeit in die Gegenwart verschleppten Nationalhasses. --
Dadurch, daß die nun kleine Anzahl der Liven sich nur unter einan¬
der verheirathet, sind alle mit einander verwandt. Und vielleicht mag
eben darin auch ein Grund für die geringe Fruchtbarkeit ihrer Ehen
liegen. Denn seit etwa 30 Jahren soll sich ihr Stamm um zwei¬
hundert Köpfe verringert haben, und schreitet dieses Verhältniß in
gleichem Maße fort, so leben in etwa 250 Jahren nur noch Jo
Menschen echtlivischcn Stammes in der ganzen weiten Welt. -- Als
Stamm und Nation sind sie freilich auch jetzt bereits für die Welt
völlig bedeutungslos. Aber in ihrer Eigenthümlichkeit, in ihrer Roh-
heit, in ihrer Stumpfheit und im Dahinbrüten, als sei alles Leben
nur Körperlast, gehören sie ganz genau zu der Sandbank, auf welcher
sie wohnen. Sie sind eben so unumgängliche Staffage dortiger Land¬
schaft, wie der Tvroler in seinen Bergen und der malerische Rinder-
Hirt in der dazuo-^na "ki klomm. Man weiß es wirklich kaum zu sagen,
was öder und einförmiger wird, je näher man dem Cap Domesnäs
gelangt: die Physiognomie der einschrumpfenden Vegetation oder die
Gesichtszüge des that- lind bedeutungslos verwitternden Livenvolkes.
Wo irgend die Dünen einen Zwischenblick offen lassen hinein in das


schwendet er zum Ankaufe des Giftes aller uncultivirten Völker, des
Branntweins. Mehr noch als bei Letten und Eschen herrscht daher
unter den Liven die Trunksucht. Und dieses Laster hat sein Gepräge
auch ihrem Antlitz aufgedrückt. Ursprünglich scheint das Gesicht des
Liven dem des Finnen sehr ähnlich, wie auch ihre Sprache mit der
finnischen verwandt ist. Aber die kräftigen, wenn schon unschönen
Züge sind jetzt meistens verschwotten; dadurch erscheinen die Augen
klein und ihr Ausdruck trübe; die dicke Stumpfnase ist geröthet, die
Lippen Wülsten sich häßlich. Bei den Frauen ist die Breite der
Backenknochen bedeutend, die Stirn auch breit und niedrig. Das
stets bei Männern und Frauen hochblonde Haar hängt verwirrt und
halbkurz geschnitten, glanzlos um den Kopf, während die Letten ihr
langes Haar sorgfältig auf der Mitte der Stirn scheiteln und in
jener Form tragen, die unsere Haarkünstler u, la ^esus <^»ist tauf¬
ten. — In ihren Sitten und Gebräuchen, in der Einrichtung ihrer
Häuser sind die Liven kaum mehr von den Letten des Meerbusen-
uferö zu scheiden. Aber als Nation trennen sie sich immer von ihnen
und häufige Schlägereien im „Kruge" sind die Manifestationen deö
aus alter Zeit in die Gegenwart verschleppten Nationalhasses. —
Dadurch, daß die nun kleine Anzahl der Liven sich nur unter einan¬
der verheirathet, sind alle mit einander verwandt. Und vielleicht mag
eben darin auch ein Grund für die geringe Fruchtbarkeit ihrer Ehen
liegen. Denn seit etwa 30 Jahren soll sich ihr Stamm um zwei¬
hundert Köpfe verringert haben, und schreitet dieses Verhältniß in
gleichem Maße fort, so leben in etwa 250 Jahren nur noch Jo
Menschen echtlivischcn Stammes in der ganzen weiten Welt. — Als
Stamm und Nation sind sie freilich auch jetzt bereits für die Welt
völlig bedeutungslos. Aber in ihrer Eigenthümlichkeit, in ihrer Roh-
heit, in ihrer Stumpfheit und im Dahinbrüten, als sei alles Leben
nur Körperlast, gehören sie ganz genau zu der Sandbank, auf welcher
sie wohnen. Sie sind eben so unumgängliche Staffage dortiger Land¬
schaft, wie der Tvroler in seinen Bergen und der malerische Rinder-
Hirt in der dazuo-^na «ki klomm. Man weiß es wirklich kaum zu sagen,
was öder und einförmiger wird, je näher man dem Cap Domesnäs
gelangt: die Physiognomie der einschrumpfenden Vegetation oder die
Gesichtszüge des that- lind bedeutungslos verwitternden Livenvolkes.
Wo irgend die Dünen einen Zwischenblick offen lassen hinein in das


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[0468] schwendet er zum Ankaufe des Giftes aller uncultivirten Völker, des Branntweins. Mehr noch als bei Letten und Eschen herrscht daher unter den Liven die Trunksucht. Und dieses Laster hat sein Gepräge auch ihrem Antlitz aufgedrückt. Ursprünglich scheint das Gesicht des Liven dem des Finnen sehr ähnlich, wie auch ihre Sprache mit der finnischen verwandt ist. Aber die kräftigen, wenn schon unschönen Züge sind jetzt meistens verschwotten; dadurch erscheinen die Augen klein und ihr Ausdruck trübe; die dicke Stumpfnase ist geröthet, die Lippen Wülsten sich häßlich. Bei den Frauen ist die Breite der Backenknochen bedeutend, die Stirn auch breit und niedrig. Das stets bei Männern und Frauen hochblonde Haar hängt verwirrt und halbkurz geschnitten, glanzlos um den Kopf, während die Letten ihr langes Haar sorgfältig auf der Mitte der Stirn scheiteln und in jener Form tragen, die unsere Haarkünstler u, la ^esus <^»ist tauf¬ ten. — In ihren Sitten und Gebräuchen, in der Einrichtung ihrer Häuser sind die Liven kaum mehr von den Letten des Meerbusen- uferö zu scheiden. Aber als Nation trennen sie sich immer von ihnen und häufige Schlägereien im „Kruge" sind die Manifestationen deö aus alter Zeit in die Gegenwart verschleppten Nationalhasses. — Dadurch, daß die nun kleine Anzahl der Liven sich nur unter einan¬ der verheirathet, sind alle mit einander verwandt. Und vielleicht mag eben darin auch ein Grund für die geringe Fruchtbarkeit ihrer Ehen liegen. Denn seit etwa 30 Jahren soll sich ihr Stamm um zwei¬ hundert Köpfe verringert haben, und schreitet dieses Verhältniß in gleichem Maße fort, so leben in etwa 250 Jahren nur noch Jo Menschen echtlivischcn Stammes in der ganzen weiten Welt. — Als Stamm und Nation sind sie freilich auch jetzt bereits für die Welt völlig bedeutungslos. Aber in ihrer Eigenthümlichkeit, in ihrer Roh- heit, in ihrer Stumpfheit und im Dahinbrüten, als sei alles Leben nur Körperlast, gehören sie ganz genau zu der Sandbank, auf welcher sie wohnen. Sie sind eben so unumgängliche Staffage dortiger Land¬ schaft, wie der Tvroler in seinen Bergen und der malerische Rinder- Hirt in der dazuo-^na «ki klomm. Man weiß es wirklich kaum zu sagen, was öder und einförmiger wird, je näher man dem Cap Domesnäs gelangt: die Physiognomie der einschrumpfenden Vegetation oder die Gesichtszüge des that- lind bedeutungslos verwitternden Livenvolkes. Wo irgend die Dünen einen Zwischenblick offen lassen hinein in das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/468>, abgerufen am 23.07.2024.