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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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sten. -- Dennoch liegt in dieser Einsamkeit, in diesen kümmerlichen
Lebensoffenbarungen nordischer Vegetation ein seltsamer Zauber. Wun¬
dersame Nuhe überkommt Jeden inmitten dieser nordischen Seeland¬
schaft. Es ist, als müßten liier alle Leidenschaften der Welt zurück¬
bleiben und als sei Schmerz wie Jubel einer Menschenmenge in diesen
Gegenden zu einer ruhigen Gleichförmigkeit ausgeglichen. Aber bis
zum ebenso erhebenden als befangenden Eindrucke gestaltet sich diese
Empfindung, wenn wir im Winter desselben Weges ziehen. Ein
Fuß tiefer Schnee überdeckt dann die Dünen und überragt beinahe
die kleinen Schwarzholzbäume des Strandwaldes. Das Meer er¬
scheint dann dem Auge von Fern als eine unbegränzte weiße Fläche; die
Möven und die Wellen schweigen todtenstill; träge liegen die Fischer¬
boote und halb verschneiet am Ufer; kaum vermögen die kleinen Hüt¬
ten aus der weißen Decke Hervorzulugen. Gebieterisch waltet das
Schweigen fern und nah. -- Kommen wir dann dem Meere näher,
so erkennen wir wohl, daß das Auge uns betrogen. Denn nicht zur
glatten Fläche, sondern zum viclzackigen Hügelland hat der Frost des
Winters die Wellen umgestaltet. Reihenweise, gleich einer Fortsetzung
der Landdünen und stockwerkhoch ziehen sich diese Eisberge auf der
weißen Fläche hin. Man ersieht ganz deutlich, wie allmälig der
Frost tiefer erstarrend in die Meerfluth gedrungen und wie an jedem
Morgen die äußersten Eiskanker von den noch lebendigen Wellen
zu einem neuen, vielfach mit Spitzen und Riffen gestalteten Damm
aufgeworfen wurden, von wo aus der in nächster Nacht mächtigere
Frost wieder ein Stück erobernd, ertödtend vorschritt. Und am fern¬
sten Horizonte, fast unscheidbar vom graugrauen Himmel, zieht sich
dann meistens ein feiner schwarzer Streifen -- das Ueberbleibsel
des offnen Meeres. So liegt der Rigische Meerbusen auch monate¬
lang. Aber ein einziger scharfer Windstoß öffnet ihn dann häufig
binnen einer Stunde in seiner ganzen Weite. Dann wallen und
wogen, branden und steigen, sinken und zerschellen, kämpfen und strei¬
ten die thurmhoch aufgeschütteten Eisberge; bis tief in's Land herein
hört man das Gebrause der befreiten Wellen; bis tief in's Land
herein fliehen die Vögel des Meeres; ängstlich bergen die einsamen
Ctrandbewohner sich und ihr Habe auf den Dünen und erzählen's
drinnen im tiefern Lande, wie draußen das Meer in wildem Auf¬
ruhr wüthe. Und oft bereits am folgenden Tage flattern wieder die


sten. — Dennoch liegt in dieser Einsamkeit, in diesen kümmerlichen
Lebensoffenbarungen nordischer Vegetation ein seltsamer Zauber. Wun¬
dersame Nuhe überkommt Jeden inmitten dieser nordischen Seeland¬
schaft. Es ist, als müßten liier alle Leidenschaften der Welt zurück¬
bleiben und als sei Schmerz wie Jubel einer Menschenmenge in diesen
Gegenden zu einer ruhigen Gleichförmigkeit ausgeglichen. Aber bis
zum ebenso erhebenden als befangenden Eindrucke gestaltet sich diese
Empfindung, wenn wir im Winter desselben Weges ziehen. Ein
Fuß tiefer Schnee überdeckt dann die Dünen und überragt beinahe
die kleinen Schwarzholzbäume des Strandwaldes. Das Meer er¬
scheint dann dem Auge von Fern als eine unbegränzte weiße Fläche; die
Möven und die Wellen schweigen todtenstill; träge liegen die Fischer¬
boote und halb verschneiet am Ufer; kaum vermögen die kleinen Hüt¬
ten aus der weißen Decke Hervorzulugen. Gebieterisch waltet das
Schweigen fern und nah. — Kommen wir dann dem Meere näher,
so erkennen wir wohl, daß das Auge uns betrogen. Denn nicht zur
glatten Fläche, sondern zum viclzackigen Hügelland hat der Frost des
Winters die Wellen umgestaltet. Reihenweise, gleich einer Fortsetzung
der Landdünen und stockwerkhoch ziehen sich diese Eisberge auf der
weißen Fläche hin. Man ersieht ganz deutlich, wie allmälig der
Frost tiefer erstarrend in die Meerfluth gedrungen und wie an jedem
Morgen die äußersten Eiskanker von den noch lebendigen Wellen
zu einem neuen, vielfach mit Spitzen und Riffen gestalteten Damm
aufgeworfen wurden, von wo aus der in nächster Nacht mächtigere
Frost wieder ein Stück erobernd, ertödtend vorschritt. Und am fern¬
sten Horizonte, fast unscheidbar vom graugrauen Himmel, zieht sich
dann meistens ein feiner schwarzer Streifen — das Ueberbleibsel
des offnen Meeres. So liegt der Rigische Meerbusen auch monate¬
lang. Aber ein einziger scharfer Windstoß öffnet ihn dann häufig
binnen einer Stunde in seiner ganzen Weite. Dann wallen und
wogen, branden und steigen, sinken und zerschellen, kämpfen und strei¬
ten die thurmhoch aufgeschütteten Eisberge; bis tief in's Land herein
hört man das Gebrause der befreiten Wellen; bis tief in's Land
herein fliehen die Vögel des Meeres; ängstlich bergen die einsamen
Ctrandbewohner sich und ihr Habe auf den Dünen und erzählen's
drinnen im tiefern Lande, wie draußen das Meer in wildem Auf¬
ruhr wüthe. Und oft bereits am folgenden Tage flattern wieder die


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[0465] sten. — Dennoch liegt in dieser Einsamkeit, in diesen kümmerlichen Lebensoffenbarungen nordischer Vegetation ein seltsamer Zauber. Wun¬ dersame Nuhe überkommt Jeden inmitten dieser nordischen Seeland¬ schaft. Es ist, als müßten liier alle Leidenschaften der Welt zurück¬ bleiben und als sei Schmerz wie Jubel einer Menschenmenge in diesen Gegenden zu einer ruhigen Gleichförmigkeit ausgeglichen. Aber bis zum ebenso erhebenden als befangenden Eindrucke gestaltet sich diese Empfindung, wenn wir im Winter desselben Weges ziehen. Ein Fuß tiefer Schnee überdeckt dann die Dünen und überragt beinahe die kleinen Schwarzholzbäume des Strandwaldes. Das Meer er¬ scheint dann dem Auge von Fern als eine unbegränzte weiße Fläche; die Möven und die Wellen schweigen todtenstill; träge liegen die Fischer¬ boote und halb verschneiet am Ufer; kaum vermögen die kleinen Hüt¬ ten aus der weißen Decke Hervorzulugen. Gebieterisch waltet das Schweigen fern und nah. — Kommen wir dann dem Meere näher, so erkennen wir wohl, daß das Auge uns betrogen. Denn nicht zur glatten Fläche, sondern zum viclzackigen Hügelland hat der Frost des Winters die Wellen umgestaltet. Reihenweise, gleich einer Fortsetzung der Landdünen und stockwerkhoch ziehen sich diese Eisberge auf der weißen Fläche hin. Man ersieht ganz deutlich, wie allmälig der Frost tiefer erstarrend in die Meerfluth gedrungen und wie an jedem Morgen die äußersten Eiskanker von den noch lebendigen Wellen zu einem neuen, vielfach mit Spitzen und Riffen gestalteten Damm aufgeworfen wurden, von wo aus der in nächster Nacht mächtigere Frost wieder ein Stück erobernd, ertödtend vorschritt. Und am fern¬ sten Horizonte, fast unscheidbar vom graugrauen Himmel, zieht sich dann meistens ein feiner schwarzer Streifen — das Ueberbleibsel des offnen Meeres. So liegt der Rigische Meerbusen auch monate¬ lang. Aber ein einziger scharfer Windstoß öffnet ihn dann häufig binnen einer Stunde in seiner ganzen Weite. Dann wallen und wogen, branden und steigen, sinken und zerschellen, kämpfen und strei¬ ten die thurmhoch aufgeschütteten Eisberge; bis tief in's Land herein hört man das Gebrause der befreiten Wellen; bis tief in's Land herein fliehen die Vögel des Meeres; ängstlich bergen die einsamen Ctrandbewohner sich und ihr Habe auf den Dünen und erzählen's drinnen im tiefern Lande, wie draußen das Meer in wildem Auf¬ ruhr wüthe. Und oft bereits am folgenden Tage flattern wieder die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/465>, abgerufen am 23.07.2024.