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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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des Nadelholzes und im Sande des Strandes. Dennoch entHallen
diese Hütten das größte Wunder Kurlands, die unvermischten Ueber-
bleibsel eines Volkes, das einst machtvoll neben den Letten und Esthen
stand. Die Livcn leben hier, obschon kaum noch tausend Köpfe stark
und dem Erlöschen entgegenschreitend.

Es mögen wohl tausend Jahre verflossen sein, seitdem der Rigi-
sche Meerbusen ein Meerbusen ist. Aber früher bildete er sicherlich
mit dem Finnischen Busen einen Binnensee, wie seine mächtigere Nach¬
barin, die Ostsee. Diese schied sich von der Nordsee durch Däne¬
mark, und dessen Inseln Fünen, Seeland, Laaland, wie Falster sind
die Ueberbleibsel der ehemaligen Landbrücke, welche die Belte und der
Sund durchbrochen haben. Eben ein solcher Nest der Scheidewand
zwischen Nigischem Meer und Ostsee ist die weit hinausgeschobene
Ecke Kurlands, welche mit Kap Domesnäs so spitz endet, daß Zwei
einander die Hände reichen können, während des Einen Fuß vom
Wasser der Ostsee, der des Andern von den Wellen des Busens be¬
spült wird; ferner Oesel, welches eine gleiche, nur felsigere Landzunge
gen Domesnäs herabschickt und nordwärts fast mit der Insel Dagö
zusammenstößt, die wieder nach dem scharfkantig herabragenden Riff
von Gustavsparre spitzige Uferklippen hinausstreckt. Wo jetzt Inseln
und Meerzusammenhang, da war das Grenzland stets am schmalsten.
Darum eben brach sich hier das Wasser Bahn und legte an die
östlichen Ufer des damals auch schmälern Kurland immer neue Schich¬
ten an, bis das jetzige kurische Dreieck zwischen beiden Gewässern
breitschenklich großwuchs.

Diese ehemaligen Verhältnisse sind auch bis heute noch nicht
spurlos in Kurland verschwunden. Wenn man nämlich aus der
Mitte des Dreieckes quer hinüberreitet nach dem Rigischen Meerbusen,
so müssen wir drei Dünenreihen überklettern, eh wir zur vierten und
heutigen am Ufer gelangen. Auch alle Gestaltung der Erde und
Vegetation weis't auf jene Vergangenheit hin. Zwar liegt der Wald,
ein stundenbreiter Gürtel des Landes, allüberall über den drei innern
Dünenreihen ausgebreitet. Jedoch an der ersten ist er am dichtesten
und ältesten; der Boden ist auch hier bereits von fruchtbarer Erd¬
schicht, dem Producte erstorbener Vegetation, bedeckt und außerdem
finden wir hier und hier allein einzelne wirkliche Felsen, die Gerippe
des ehemaligen Uferlandes, längs der dürren Hügelreihe verstreut.


des Nadelholzes und im Sande des Strandes. Dennoch entHallen
diese Hütten das größte Wunder Kurlands, die unvermischten Ueber-
bleibsel eines Volkes, das einst machtvoll neben den Letten und Esthen
stand. Die Livcn leben hier, obschon kaum noch tausend Köpfe stark
und dem Erlöschen entgegenschreitend.

Es mögen wohl tausend Jahre verflossen sein, seitdem der Rigi-
sche Meerbusen ein Meerbusen ist. Aber früher bildete er sicherlich
mit dem Finnischen Busen einen Binnensee, wie seine mächtigere Nach¬
barin, die Ostsee. Diese schied sich von der Nordsee durch Däne¬
mark, und dessen Inseln Fünen, Seeland, Laaland, wie Falster sind
die Ueberbleibsel der ehemaligen Landbrücke, welche die Belte und der
Sund durchbrochen haben. Eben ein solcher Nest der Scheidewand
zwischen Nigischem Meer und Ostsee ist die weit hinausgeschobene
Ecke Kurlands, welche mit Kap Domesnäs so spitz endet, daß Zwei
einander die Hände reichen können, während des Einen Fuß vom
Wasser der Ostsee, der des Andern von den Wellen des Busens be¬
spült wird; ferner Oesel, welches eine gleiche, nur felsigere Landzunge
gen Domesnäs herabschickt und nordwärts fast mit der Insel Dagö
zusammenstößt, die wieder nach dem scharfkantig herabragenden Riff
von Gustavsparre spitzige Uferklippen hinausstreckt. Wo jetzt Inseln
und Meerzusammenhang, da war das Grenzland stets am schmalsten.
Darum eben brach sich hier das Wasser Bahn und legte an die
östlichen Ufer des damals auch schmälern Kurland immer neue Schich¬
ten an, bis das jetzige kurische Dreieck zwischen beiden Gewässern
breitschenklich großwuchs.

Diese ehemaligen Verhältnisse sind auch bis heute noch nicht
spurlos in Kurland verschwunden. Wenn man nämlich aus der
Mitte des Dreieckes quer hinüberreitet nach dem Rigischen Meerbusen,
so müssen wir drei Dünenreihen überklettern, eh wir zur vierten und
heutigen am Ufer gelangen. Auch alle Gestaltung der Erde und
Vegetation weis't auf jene Vergangenheit hin. Zwar liegt der Wald,
ein stundenbreiter Gürtel des Landes, allüberall über den drei innern
Dünenreihen ausgebreitet. Jedoch an der ersten ist er am dichtesten
und ältesten; der Boden ist auch hier bereits von fruchtbarer Erd¬
schicht, dem Producte erstorbener Vegetation, bedeckt und außerdem
finden wir hier und hier allein einzelne wirkliche Felsen, die Gerippe
des ehemaligen Uferlandes, längs der dürren Hügelreihe verstreut.


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[0463] des Nadelholzes und im Sande des Strandes. Dennoch entHallen diese Hütten das größte Wunder Kurlands, die unvermischten Ueber- bleibsel eines Volkes, das einst machtvoll neben den Letten und Esthen stand. Die Livcn leben hier, obschon kaum noch tausend Köpfe stark und dem Erlöschen entgegenschreitend. Es mögen wohl tausend Jahre verflossen sein, seitdem der Rigi- sche Meerbusen ein Meerbusen ist. Aber früher bildete er sicherlich mit dem Finnischen Busen einen Binnensee, wie seine mächtigere Nach¬ barin, die Ostsee. Diese schied sich von der Nordsee durch Däne¬ mark, und dessen Inseln Fünen, Seeland, Laaland, wie Falster sind die Ueberbleibsel der ehemaligen Landbrücke, welche die Belte und der Sund durchbrochen haben. Eben ein solcher Nest der Scheidewand zwischen Nigischem Meer und Ostsee ist die weit hinausgeschobene Ecke Kurlands, welche mit Kap Domesnäs so spitz endet, daß Zwei einander die Hände reichen können, während des Einen Fuß vom Wasser der Ostsee, der des Andern von den Wellen des Busens be¬ spült wird; ferner Oesel, welches eine gleiche, nur felsigere Landzunge gen Domesnäs herabschickt und nordwärts fast mit der Insel Dagö zusammenstößt, die wieder nach dem scharfkantig herabragenden Riff von Gustavsparre spitzige Uferklippen hinausstreckt. Wo jetzt Inseln und Meerzusammenhang, da war das Grenzland stets am schmalsten. Darum eben brach sich hier das Wasser Bahn und legte an die östlichen Ufer des damals auch schmälern Kurland immer neue Schich¬ ten an, bis das jetzige kurische Dreieck zwischen beiden Gewässern breitschenklich großwuchs. Diese ehemaligen Verhältnisse sind auch bis heute noch nicht spurlos in Kurland verschwunden. Wenn man nämlich aus der Mitte des Dreieckes quer hinüberreitet nach dem Rigischen Meerbusen, so müssen wir drei Dünenreihen überklettern, eh wir zur vierten und heutigen am Ufer gelangen. Auch alle Gestaltung der Erde und Vegetation weis't auf jene Vergangenheit hin. Zwar liegt der Wald, ein stundenbreiter Gürtel des Landes, allüberall über den drei innern Dünenreihen ausgebreitet. Jedoch an der ersten ist er am dichtesten und ältesten; der Boden ist auch hier bereits von fruchtbarer Erd¬ schicht, dem Producte erstorbener Vegetation, bedeckt und außerdem finden wir hier und hier allein einzelne wirkliche Felsen, die Gerippe des ehemaligen Uferlandes, längs der dürren Hügelreihe verstreut.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/463>, abgerufen am 22.07.2024.