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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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unter uns! Schließt die Thüren! So riefen viele Stimmen durch
einander. Einige zogen die Degen und wollten die Abgänge be¬
setzen, alö auf mehreren Punkten der Allsbruch allgemein ward. In
diesem Augenblick zog der Prinz, den ich bisher außer Acht gelassen,
meine Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte die ganze Zeit über in sich
vertieft auf den Stufen der Erhöhung neben mir gekniet. Als er
jetzt meine Hand wie in Ertase drückte, sah ich in ein verzücktes
Angesicht. Er richtete sich hoch auf, er streckte beide Arme über die
Versammlung hin und herrschte Schweigen; sein Auge leuchtete wie
der Blick eines Visivnärs. Der Großmeister nahm diesen Augenblick
wahr, die in Auflösung begriffene Gesellschaft rasch auf einem neuen
Punkt zu sammeln; mit seiner Hilfe ward die Ruhe im Saale her¬
gestellt. Er hieß die Thüren schließen und die kleine Anzahl der noch
Gegenwärtigen drängte sich in der Rotunde um den Prinzen, der hoch
aufgerichtet, über Alle hervorragend, wie ein Geist zwischen Erde und
Himmel zu schweben schien und wie ein begeisterter Pilger an die
Pforte der Ewigkeit klopfte. -- O Ihr Geweihten, rief er, die Ihr
die verschlossenen Tiefen der Wissenschaft entriegelt und Euch die
Elemente dienstbar macht! Ich rufe Euch an und Dich, Meisterin,
geheimnißvolle Mutter Natur! Du stehst dem geweihten Bundes-
brüder Rede, Du erhörst sein Gebet, Du gibst ihm Aufschluß über
den bangen Wunsch seines Herzens. Verwirf mich nicht, mein Wunsch
ist heilig. Gib meiner dürstenden Seele einen Trank der Erquickung,
einen Tropfen Wahrheit; die Creatur lechzt nach Erlösung. Auch
ich habe einen Schmerz, für den die Weisheit der Welt keine Heilung
kennt. Ich liebe ein weibliches Wesen, und ein böser Dämon hält
sie in Banden, die> Niemand zu lösen vermag. Ein räthselhaftes
Leiden hat sich ihrer Seele bemächtigt. Nachts geht sie um wie ein
gestörter Geist; den Tag verwandelt sie sich in eine nebelhafte Däm¬
merung. Alle Genien der Unschuld und der süßen Freundlichkeit
scheinen vereinigt ihr Herz mit allen Gaben deö Liebreizes auszustat¬
ten, und doch verkehrt ein böser Dämon ihr ganzes Dasein in ein
räthselvolles Unglück. Kein Arzt weiß dieser Zerstörung Einhalt zu
thun, dies hinsiechende Leben zu retten, und ich stehe seit Jahren an
dem schreckenvollen Abgrund, in den ich das theuerste Gut, mir von
Gott und Menschen zugesprochen, versinken sehe. Männer der ver¬
borgenen Wissenschaft, versteht Ihr den Wissensdrang meiner Seele?


unter uns! Schließt die Thüren! So riefen viele Stimmen durch
einander. Einige zogen die Degen und wollten die Abgänge be¬
setzen, alö auf mehreren Punkten der Allsbruch allgemein ward. In
diesem Augenblick zog der Prinz, den ich bisher außer Acht gelassen,
meine Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte die ganze Zeit über in sich
vertieft auf den Stufen der Erhöhung neben mir gekniet. Als er
jetzt meine Hand wie in Ertase drückte, sah ich in ein verzücktes
Angesicht. Er richtete sich hoch auf, er streckte beide Arme über die
Versammlung hin und herrschte Schweigen; sein Auge leuchtete wie
der Blick eines Visivnärs. Der Großmeister nahm diesen Augenblick
wahr, die in Auflösung begriffene Gesellschaft rasch auf einem neuen
Punkt zu sammeln; mit seiner Hilfe ward die Ruhe im Saale her¬
gestellt. Er hieß die Thüren schließen und die kleine Anzahl der noch
Gegenwärtigen drängte sich in der Rotunde um den Prinzen, der hoch
aufgerichtet, über Alle hervorragend, wie ein Geist zwischen Erde und
Himmel zu schweben schien und wie ein begeisterter Pilger an die
Pforte der Ewigkeit klopfte. — O Ihr Geweihten, rief er, die Ihr
die verschlossenen Tiefen der Wissenschaft entriegelt und Euch die
Elemente dienstbar macht! Ich rufe Euch an und Dich, Meisterin,
geheimnißvolle Mutter Natur! Du stehst dem geweihten Bundes-
brüder Rede, Du erhörst sein Gebet, Du gibst ihm Aufschluß über
den bangen Wunsch seines Herzens. Verwirf mich nicht, mein Wunsch
ist heilig. Gib meiner dürstenden Seele einen Trank der Erquickung,
einen Tropfen Wahrheit; die Creatur lechzt nach Erlösung. Auch
ich habe einen Schmerz, für den die Weisheit der Welt keine Heilung
kennt. Ich liebe ein weibliches Wesen, und ein böser Dämon hält
sie in Banden, die> Niemand zu lösen vermag. Ein räthselhaftes
Leiden hat sich ihrer Seele bemächtigt. Nachts geht sie um wie ein
gestörter Geist; den Tag verwandelt sie sich in eine nebelhafte Däm¬
merung. Alle Genien der Unschuld und der süßen Freundlichkeit
scheinen vereinigt ihr Herz mit allen Gaben deö Liebreizes auszustat¬
ten, und doch verkehrt ein böser Dämon ihr ganzes Dasein in ein
räthselvolles Unglück. Kein Arzt weiß dieser Zerstörung Einhalt zu
thun, dies hinsiechende Leben zu retten, und ich stehe seit Jahren an
dem schreckenvollen Abgrund, in den ich das theuerste Gut, mir von
Gott und Menschen zugesprochen, versinken sehe. Männer der ver¬
borgenen Wissenschaft, versteht Ihr den Wissensdrang meiner Seele?


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[0409] unter uns! Schließt die Thüren! So riefen viele Stimmen durch einander. Einige zogen die Degen und wollten die Abgänge be¬ setzen, alö auf mehreren Punkten der Allsbruch allgemein ward. In diesem Augenblick zog der Prinz, den ich bisher außer Acht gelassen, meine Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte die ganze Zeit über in sich vertieft auf den Stufen der Erhöhung neben mir gekniet. Als er jetzt meine Hand wie in Ertase drückte, sah ich in ein verzücktes Angesicht. Er richtete sich hoch auf, er streckte beide Arme über die Versammlung hin und herrschte Schweigen; sein Auge leuchtete wie der Blick eines Visivnärs. Der Großmeister nahm diesen Augenblick wahr, die in Auflösung begriffene Gesellschaft rasch auf einem neuen Punkt zu sammeln; mit seiner Hilfe ward die Ruhe im Saale her¬ gestellt. Er hieß die Thüren schließen und die kleine Anzahl der noch Gegenwärtigen drängte sich in der Rotunde um den Prinzen, der hoch aufgerichtet, über Alle hervorragend, wie ein Geist zwischen Erde und Himmel zu schweben schien und wie ein begeisterter Pilger an die Pforte der Ewigkeit klopfte. — O Ihr Geweihten, rief er, die Ihr die verschlossenen Tiefen der Wissenschaft entriegelt und Euch die Elemente dienstbar macht! Ich rufe Euch an und Dich, Meisterin, geheimnißvolle Mutter Natur! Du stehst dem geweihten Bundes- brüder Rede, Du erhörst sein Gebet, Du gibst ihm Aufschluß über den bangen Wunsch seines Herzens. Verwirf mich nicht, mein Wunsch ist heilig. Gib meiner dürstenden Seele einen Trank der Erquickung, einen Tropfen Wahrheit; die Creatur lechzt nach Erlösung. Auch ich habe einen Schmerz, für den die Weisheit der Welt keine Heilung kennt. Ich liebe ein weibliches Wesen, und ein böser Dämon hält sie in Banden, die> Niemand zu lösen vermag. Ein räthselhaftes Leiden hat sich ihrer Seele bemächtigt. Nachts geht sie um wie ein gestörter Geist; den Tag verwandelt sie sich in eine nebelhafte Däm¬ merung. Alle Genien der Unschuld und der süßen Freundlichkeit scheinen vereinigt ihr Herz mit allen Gaben deö Liebreizes auszustat¬ ten, und doch verkehrt ein böser Dämon ihr ganzes Dasein in ein räthselvolles Unglück. Kein Arzt weiß dieser Zerstörung Einhalt zu thun, dies hinsiechende Leben zu retten, und ich stehe seit Jahren an dem schreckenvollen Abgrund, in den ich das theuerste Gut, mir von Gott und Menschen zugesprochen, versinken sehe. Männer der ver¬ borgenen Wissenschaft, versteht Ihr den Wissensdrang meiner Seele?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/409>, abgerufen am 01.10.2024.