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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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mir "och neu. Der Stengel ragte wie ein Baum in die Kuppel
hinauf. Ihre Blatter schlossen sich oben zu einem Kelch zusammen
und das Gewölbe über ihr gab den Anblick deö gestirnten Himmels.
Ich war in diesem glänzenden Gebäude mit meinem dunklen Pilger¬
gewand der einzige unscheinbare Gegenstand. Es dauerte nicht lange,
so füllte sich die eine von den vier Festhalten, die an den mittlern
Tempel stießen, mit Gestalten in vielerlei Tracht. Dunkelblau, him¬
melblau, blau und weiß, Einige mit rothen Mänteln, je nach dem
Grade und der Bedeutung ihrer Würde. Während eine Harmonika
ihr ncrvendurchzittemdes, seelenzernagendeö Spiel begann, gruppirten
sich Alle um eine hervorragende Gestalt, vor der sie die Akazien¬
zweige senkten. Wie die alten Hierophanten trug dieser ihr Meister
auf einem Gabelkreuz eine Platte von Metall, auf der ich die Worte
las: Wahrheit, Weisheit. Alles in seinem Anzüge schien sinnreich.
Ueber dem gestickten purpurnen Gewand trug er ein Oberkleid von
der Farbe der Unschuld. Ein Diadem, mit Edelsteinen geziert, deren
Zusammenstellung auf die Macht Gottes deutete, zierte seine Stirn.
Als die sinnverwirrenden Glastöne des Instrumentes schwiegen, er"
tönte aus dem Kelch der Lotosblume eine sehnsüchtig klagende Frauen¬
stimme: Isis ruft Euch Sterbliche! Wer wird den Schleier heben
der mich verhüllt! Ich seufze schon Jahrhunderte lang nach Erlösung!
So erscholl es aus der singenden Blume und es war mir. als regte
sich im Kelch ein schmerzbeklommcnes Herz, als sei jedes Blatt ein,
Arm, der himmelan nach Hilfe griff. Die Versammelten waren in¬
zwischen niedergekniet, nur der Großmeister stand aufrecht, den Blick
auf mich gerichtet. Sein Haupt umstrahlte mit zitternden Flammen
ein dunkelrother Schein. Er trat auf mich zu und winkte mir
näher.

-- Neuling, sprach er nicht ohne Würde; die enge Zelle des
Grabes hat sich um Dich her in eine Festhatte der Freude verwan¬
delt. Also ist der Uebergang von der Finsterniß zum Licht, vom
Tode zum Leben; in dem kleinen Punkt des Erdendaseins liegt der
Ring der Ewigkeiten. Unser Streben ist, aus dem Gegebenen die
Zukunft, aus dem Bekannten das noch Verborgene zu entwickeln.
Wir heißen Dich, willst Du an unsern Arbeiten Theil nehmen, im
Kreise willkommen und bekleiden Dich mit den Jnsignien der unter¬
sten Stufe unseres Bundes. An dem kleinen Ringe, den ich a"


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mir »och neu. Der Stengel ragte wie ein Baum in die Kuppel
hinauf. Ihre Blatter schlossen sich oben zu einem Kelch zusammen
und das Gewölbe über ihr gab den Anblick deö gestirnten Himmels.
Ich war in diesem glänzenden Gebäude mit meinem dunklen Pilger¬
gewand der einzige unscheinbare Gegenstand. Es dauerte nicht lange,
so füllte sich die eine von den vier Festhalten, die an den mittlern
Tempel stießen, mit Gestalten in vielerlei Tracht. Dunkelblau, him¬
melblau, blau und weiß, Einige mit rothen Mänteln, je nach dem
Grade und der Bedeutung ihrer Würde. Während eine Harmonika
ihr ncrvendurchzittemdes, seelenzernagendeö Spiel begann, gruppirten
sich Alle um eine hervorragende Gestalt, vor der sie die Akazien¬
zweige senkten. Wie die alten Hierophanten trug dieser ihr Meister
auf einem Gabelkreuz eine Platte von Metall, auf der ich die Worte
las: Wahrheit, Weisheit. Alles in seinem Anzüge schien sinnreich.
Ueber dem gestickten purpurnen Gewand trug er ein Oberkleid von
der Farbe der Unschuld. Ein Diadem, mit Edelsteinen geziert, deren
Zusammenstellung auf die Macht Gottes deutete, zierte seine Stirn.
Als die sinnverwirrenden Glastöne des Instrumentes schwiegen, er»
tönte aus dem Kelch der Lotosblume eine sehnsüchtig klagende Frauen¬
stimme: Isis ruft Euch Sterbliche! Wer wird den Schleier heben
der mich verhüllt! Ich seufze schon Jahrhunderte lang nach Erlösung!
So erscholl es aus der singenden Blume und es war mir. als regte
sich im Kelch ein schmerzbeklommcnes Herz, als sei jedes Blatt ein,
Arm, der himmelan nach Hilfe griff. Die Versammelten waren in¬
zwischen niedergekniet, nur der Großmeister stand aufrecht, den Blick
auf mich gerichtet. Sein Haupt umstrahlte mit zitternden Flammen
ein dunkelrother Schein. Er trat auf mich zu und winkte mir
näher.

— Neuling, sprach er nicht ohne Würde; die enge Zelle des
Grabes hat sich um Dich her in eine Festhatte der Freude verwan¬
delt. Also ist der Uebergang von der Finsterniß zum Licht, vom
Tode zum Leben; in dem kleinen Punkt des Erdendaseins liegt der
Ring der Ewigkeiten. Unser Streben ist, aus dem Gegebenen die
Zukunft, aus dem Bekannten das noch Verborgene zu entwickeln.
Wir heißen Dich, willst Du an unsern Arbeiten Theil nehmen, im
Kreise willkommen und bekleiden Dich mit den Jnsignien der unter¬
sten Stufe unseres Bundes. An dem kleinen Ringe, den ich a»


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[0373] mir »och neu. Der Stengel ragte wie ein Baum in die Kuppel hinauf. Ihre Blatter schlossen sich oben zu einem Kelch zusammen und das Gewölbe über ihr gab den Anblick deö gestirnten Himmels. Ich war in diesem glänzenden Gebäude mit meinem dunklen Pilger¬ gewand der einzige unscheinbare Gegenstand. Es dauerte nicht lange, so füllte sich die eine von den vier Festhalten, die an den mittlern Tempel stießen, mit Gestalten in vielerlei Tracht. Dunkelblau, him¬ melblau, blau und weiß, Einige mit rothen Mänteln, je nach dem Grade und der Bedeutung ihrer Würde. Während eine Harmonika ihr ncrvendurchzittemdes, seelenzernagendeö Spiel begann, gruppirten sich Alle um eine hervorragende Gestalt, vor der sie die Akazien¬ zweige senkten. Wie die alten Hierophanten trug dieser ihr Meister auf einem Gabelkreuz eine Platte von Metall, auf der ich die Worte las: Wahrheit, Weisheit. Alles in seinem Anzüge schien sinnreich. Ueber dem gestickten purpurnen Gewand trug er ein Oberkleid von der Farbe der Unschuld. Ein Diadem, mit Edelsteinen geziert, deren Zusammenstellung auf die Macht Gottes deutete, zierte seine Stirn. Als die sinnverwirrenden Glastöne des Instrumentes schwiegen, er» tönte aus dem Kelch der Lotosblume eine sehnsüchtig klagende Frauen¬ stimme: Isis ruft Euch Sterbliche! Wer wird den Schleier heben der mich verhüllt! Ich seufze schon Jahrhunderte lang nach Erlösung! So erscholl es aus der singenden Blume und es war mir. als regte sich im Kelch ein schmerzbeklommcnes Herz, als sei jedes Blatt ein, Arm, der himmelan nach Hilfe griff. Die Versammelten waren in¬ zwischen niedergekniet, nur der Großmeister stand aufrecht, den Blick auf mich gerichtet. Sein Haupt umstrahlte mit zitternden Flammen ein dunkelrother Schein. Er trat auf mich zu und winkte mir näher. — Neuling, sprach er nicht ohne Würde; die enge Zelle des Grabes hat sich um Dich her in eine Festhatte der Freude verwan¬ delt. Also ist der Uebergang von der Finsterniß zum Licht, vom Tode zum Leben; in dem kleinen Punkt des Erdendaseins liegt der Ring der Ewigkeiten. Unser Streben ist, aus dem Gegebenen die Zukunft, aus dem Bekannten das noch Verborgene zu entwickeln. Wir heißen Dich, willst Du an unsern Arbeiten Theil nehmen, im Kreise willkommen und bekleiden Dich mit den Jnsignien der unter¬ sten Stufe unseres Bundes. An dem kleinen Ringe, den ich a» 47»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/373>, abgerufen am 23.07.2024.