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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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kommt! Ich lehnte mich an die Wand zurück und gab meine Sinne
an die Dämmerung hin, die sich um mich breitete.

Ein lateinischer Kirchenchoral drang jetzt an mein Ohr. Wir
haben ihn eingesargt, so ungefähr war der Sinn des Liedes, und
mit ihm die Irrthümer des Lebens, den Aberglauben der Völker und
den Wahn aller Religionen. Frei von ihnen feiere sein Geist die
Auferstehung! Der Chor schwieg und eine Orgel wiederholte noch
die einfache Weise des Liedes. Wie aus einem Sprachrohr, aus
weiter Ferne und doch vernehmlich, erscholl jetzt die Stimme eines
Mannes, dessen Gestalt mir unsichtbar blieb. Ich ward feierlich be¬
fragt, ob ich in die Gesellschaft zur Verbreitung der reinen Lehre auf¬
genommen sein wolle. Auf meine Bejahung sprach der Mann aus
dem Dunkeln: So zeige Dich stark, dem hergebrachten Glauben Dei¬
ner Kirche, sowie der Sitte und der Gewohnheit Deines Volkes zu
entsagen. Du trittst hier der Wahrheit um einen Schritt näher.
Besinne Dich und stehe mir Rede, wie Du den Inhalt unserer Ueber¬
zeugungen aufzufassen vermagst. -- Die alten Gnostiker, die aus den
Kabbalisten hervorgingen, sagten ihren Eingeweihten, daß der, welcher
den Gekreuzigten anbete, auf der untersten Stufe der Wesenleiter
stehe, und daß im Gegentheil derjenige, der die Kraft habe, einzu¬
sehen, ein Mensch könne kein allmächtiger Gott sein, die tiefere Weis¬
heit inne habe. Die Kreuzfahrer brachten diese Lehre aus dem Orient
und die Tempelherren, die dafür bluteten, haben sich zu ihr bekannt.
Mit ihnen begann die Reform des christlichen Glaubens und diese
Wahrheit legte den Grundstein zum wahren Tempel Salomonis, zur
unsichtbaren Kirche, an welcher die Menschheit im Geheimen baut.
Es ist leichter, zu einem Christus, der Gott ist, zu beten, als in ihm
die wunderbare Kraft menschlicher Herrlichkeit zu begreifen. Den schönen
Mythus von der unverletzten Jungfräulichkeit, die den Jesus von
Nazareth gebar, wollen wir Dir nicht rauben, er ist älter als die
christliche Kirche, er gehört zu den ältesten Sagen, welche die Mensch¬
heit von Anfang an in ihrem Schooße trug. Unter den Chinesen
fühlte die Mutter des Chao-Hao beim Anblick eines Sternes, dessen
Licht in ihre Seele drang, lebendiges Leben unter ihrem Herzen. Bei
andern kindlichen Völkern drängte sich eine glänzende Wolke an den
Busen einer Jungfrau und der Gott überschattete sie, oder ein Re¬
genbogen, die Brücke zwischen Himmel und Erde, senkte sich in ihr


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kommt! Ich lehnte mich an die Wand zurück und gab meine Sinne
an die Dämmerung hin, die sich um mich breitete.

Ein lateinischer Kirchenchoral drang jetzt an mein Ohr. Wir
haben ihn eingesargt, so ungefähr war der Sinn des Liedes, und
mit ihm die Irrthümer des Lebens, den Aberglauben der Völker und
den Wahn aller Religionen. Frei von ihnen feiere sein Geist die
Auferstehung! Der Chor schwieg und eine Orgel wiederholte noch
die einfache Weise des Liedes. Wie aus einem Sprachrohr, aus
weiter Ferne und doch vernehmlich, erscholl jetzt die Stimme eines
Mannes, dessen Gestalt mir unsichtbar blieb. Ich ward feierlich be¬
fragt, ob ich in die Gesellschaft zur Verbreitung der reinen Lehre auf¬
genommen sein wolle. Auf meine Bejahung sprach der Mann aus
dem Dunkeln: So zeige Dich stark, dem hergebrachten Glauben Dei¬
ner Kirche, sowie der Sitte und der Gewohnheit Deines Volkes zu
entsagen. Du trittst hier der Wahrheit um einen Schritt näher.
Besinne Dich und stehe mir Rede, wie Du den Inhalt unserer Ueber¬
zeugungen aufzufassen vermagst. — Die alten Gnostiker, die aus den
Kabbalisten hervorgingen, sagten ihren Eingeweihten, daß der, welcher
den Gekreuzigten anbete, auf der untersten Stufe der Wesenleiter
stehe, und daß im Gegentheil derjenige, der die Kraft habe, einzu¬
sehen, ein Mensch könne kein allmächtiger Gott sein, die tiefere Weis¬
heit inne habe. Die Kreuzfahrer brachten diese Lehre aus dem Orient
und die Tempelherren, die dafür bluteten, haben sich zu ihr bekannt.
Mit ihnen begann die Reform des christlichen Glaubens und diese
Wahrheit legte den Grundstein zum wahren Tempel Salomonis, zur
unsichtbaren Kirche, an welcher die Menschheit im Geheimen baut.
Es ist leichter, zu einem Christus, der Gott ist, zu beten, als in ihm
die wunderbare Kraft menschlicher Herrlichkeit zu begreifen. Den schönen
Mythus von der unverletzten Jungfräulichkeit, die den Jesus von
Nazareth gebar, wollen wir Dir nicht rauben, er ist älter als die
christliche Kirche, er gehört zu den ältesten Sagen, welche die Mensch¬
heit von Anfang an in ihrem Schooße trug. Unter den Chinesen
fühlte die Mutter des Chao-Hao beim Anblick eines Sternes, dessen
Licht in ihre Seele drang, lebendiges Leben unter ihrem Herzen. Bei
andern kindlichen Völkern drängte sich eine glänzende Wolke an den
Busen einer Jungfrau und der Gott überschattete sie, oder ein Re¬
genbogen, die Brücke zwischen Himmel und Erde, senkte sich in ihr


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[0365] kommt! Ich lehnte mich an die Wand zurück und gab meine Sinne an die Dämmerung hin, die sich um mich breitete. Ein lateinischer Kirchenchoral drang jetzt an mein Ohr. Wir haben ihn eingesargt, so ungefähr war der Sinn des Liedes, und mit ihm die Irrthümer des Lebens, den Aberglauben der Völker und den Wahn aller Religionen. Frei von ihnen feiere sein Geist die Auferstehung! Der Chor schwieg und eine Orgel wiederholte noch die einfache Weise des Liedes. Wie aus einem Sprachrohr, aus weiter Ferne und doch vernehmlich, erscholl jetzt die Stimme eines Mannes, dessen Gestalt mir unsichtbar blieb. Ich ward feierlich be¬ fragt, ob ich in die Gesellschaft zur Verbreitung der reinen Lehre auf¬ genommen sein wolle. Auf meine Bejahung sprach der Mann aus dem Dunkeln: So zeige Dich stark, dem hergebrachten Glauben Dei¬ ner Kirche, sowie der Sitte und der Gewohnheit Deines Volkes zu entsagen. Du trittst hier der Wahrheit um einen Schritt näher. Besinne Dich und stehe mir Rede, wie Du den Inhalt unserer Ueber¬ zeugungen aufzufassen vermagst. — Die alten Gnostiker, die aus den Kabbalisten hervorgingen, sagten ihren Eingeweihten, daß der, welcher den Gekreuzigten anbete, auf der untersten Stufe der Wesenleiter stehe, und daß im Gegentheil derjenige, der die Kraft habe, einzu¬ sehen, ein Mensch könne kein allmächtiger Gott sein, die tiefere Weis¬ heit inne habe. Die Kreuzfahrer brachten diese Lehre aus dem Orient und die Tempelherren, die dafür bluteten, haben sich zu ihr bekannt. Mit ihnen begann die Reform des christlichen Glaubens und diese Wahrheit legte den Grundstein zum wahren Tempel Salomonis, zur unsichtbaren Kirche, an welcher die Menschheit im Geheimen baut. Es ist leichter, zu einem Christus, der Gott ist, zu beten, als in ihm die wunderbare Kraft menschlicher Herrlichkeit zu begreifen. Den schönen Mythus von der unverletzten Jungfräulichkeit, die den Jesus von Nazareth gebar, wollen wir Dir nicht rauben, er ist älter als die christliche Kirche, er gehört zu den ältesten Sagen, welche die Mensch¬ heit von Anfang an in ihrem Schooße trug. Unter den Chinesen fühlte die Mutter des Chao-Hao beim Anblick eines Sternes, dessen Licht in ihre Seele drang, lebendiges Leben unter ihrem Herzen. Bei andern kindlichen Völkern drängte sich eine glänzende Wolke an den Busen einer Jungfrau und der Gott überschattete sie, oder ein Re¬ genbogen, die Brücke zwischen Himmel und Erde, senkte sich in ihr 46 »

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/365>, abgerufen am 23.07.2024.