Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

ein neues Werk? Thäten sie Letzteres, sie würden ergiebigere Folge¬
rungen finden für öffentliches Leben, als die Wiederholung von All-
tagSnotizen erwecken kann.

Das Urtheil im Publicum und das Urtheil in der Tagespreise
über ein neues Theaterstück bedarf auch noch gar sehr der Ausbil¬
dung. Dies hat sich mir aufgedrängt bei der Marquise von Bil¬
lette.

Das Stück ist ganz und gar verschieden von dem, was wir
sonst unter einem Birch-Pfeifferschen Stück verstehen, und dennoch les'
ich hie und da, zum Beispiel so eben in einem Berichte aus Carls-
ruh, Urtheile über das Stück, welche es ohne Weiteres mit Thomas
Thyrnau und Mutter und Sohn in Eine Kategorie stellen und be¬
seitigen. Solch ein Mangel an Geschmack oder an Gewissenhaftig¬
keit ist sehr beunruhigend.

Ich schicke voraus, daß ich zu den entschiedensten Gegnern der
Roman-Stücke von Frau Birch-Pfeiffer gehöre, und daß ich mit dem
entschiedensten Mißtrauen an diese Marquise von Billette kam. Aber
dies Stück ist grundverschieden von den übrigen Stücken der Ver¬
fasserin. Es ist eine selbständige, mit vieler Geschicklichkeit behandelte
Composiüon, die sich ganz organisch und großenteils anmuthig zum
Schlüsse bringt. Das Thema ist: Lord Bolingbroke liebt die junge
Billette, einen Schützling der Frau von Maintenon, und erobert sie
sich zur Gattin mitten unter Intriguen des französischen Hofes. Er
ist Friedcnsunterhändler mit dem greisen König Ludwig XIV., wel¬
cher eine persönliche Vorliebe für die junge Marquise hegt; er ist
Protestant und weicht nicht einen Fingerbreit von seiner diplomatischen
Aufgabe und seinem Glauben und erobert sich die Gattin doch. Dies
ist eine feine Aufgabe für ein Charaklerluftspiel. Die schwache Seite
der Composition ist das zu weit gehende Eingreifen des Herzogs von
Maine, welcher im vierten Akte den Lord Bolingbroke entführen läßt
und vor einer verlarvten Gesellschaft sogenannter Jakobiten durch blanke
Degengewalt zur Unterschreibung eines Friedenstraktates zwingen will.
Hier muß Bolingbroke in etwas Theaterprinz werden, und das Grelle
dieses Aktes geht über Linien und Farben des übrigen Ensembles
und über die Grenzen geschichtlicher Wahrscheinlichkeit hinaus. Uebri-
gens wäre zu den Mängeln nur hie und da eine plumpe Erwiede¬
rung im Dialog zu rechnen. Aber auch diese ist selten, auch der


ein neues Werk? Thäten sie Letzteres, sie würden ergiebigere Folge¬
rungen finden für öffentliches Leben, als die Wiederholung von All-
tagSnotizen erwecken kann.

Das Urtheil im Publicum und das Urtheil in der Tagespreise
über ein neues Theaterstück bedarf auch noch gar sehr der Ausbil¬
dung. Dies hat sich mir aufgedrängt bei der Marquise von Bil¬
lette.

Das Stück ist ganz und gar verschieden von dem, was wir
sonst unter einem Birch-Pfeifferschen Stück verstehen, und dennoch les'
ich hie und da, zum Beispiel so eben in einem Berichte aus Carls-
ruh, Urtheile über das Stück, welche es ohne Weiteres mit Thomas
Thyrnau und Mutter und Sohn in Eine Kategorie stellen und be¬
seitigen. Solch ein Mangel an Geschmack oder an Gewissenhaftig¬
keit ist sehr beunruhigend.

Ich schicke voraus, daß ich zu den entschiedensten Gegnern der
Roman-Stücke von Frau Birch-Pfeiffer gehöre, und daß ich mit dem
entschiedensten Mißtrauen an diese Marquise von Billette kam. Aber
dies Stück ist grundverschieden von den übrigen Stücken der Ver¬
fasserin. Es ist eine selbständige, mit vieler Geschicklichkeit behandelte
Composiüon, die sich ganz organisch und großenteils anmuthig zum
Schlüsse bringt. Das Thema ist: Lord Bolingbroke liebt die junge
Billette, einen Schützling der Frau von Maintenon, und erobert sie
sich zur Gattin mitten unter Intriguen des französischen Hofes. Er
ist Friedcnsunterhändler mit dem greisen König Ludwig XIV., wel¬
cher eine persönliche Vorliebe für die junge Marquise hegt; er ist
Protestant und weicht nicht einen Fingerbreit von seiner diplomatischen
Aufgabe und seinem Glauben und erobert sich die Gattin doch. Dies
ist eine feine Aufgabe für ein Charaklerluftspiel. Die schwache Seite
der Composition ist das zu weit gehende Eingreifen des Herzogs von
Maine, welcher im vierten Akte den Lord Bolingbroke entführen läßt
und vor einer verlarvten Gesellschaft sogenannter Jakobiten durch blanke
Degengewalt zur Unterschreibung eines Friedenstraktates zwingen will.
Hier muß Bolingbroke in etwas Theaterprinz werden, und das Grelle
dieses Aktes geht über Linien und Farben des übrigen Ensembles
und über die Grenzen geschichtlicher Wahrscheinlichkeit hinaus. Uebri-
gens wäre zu den Mängeln nur hie und da eine plumpe Erwiede¬
rung im Dialog zu rechnen. Aber auch diese ist selten, auch der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0356" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/269771"/>
          <p xml:id="ID_1030" prev="#ID_1029"> ein neues Werk? Thäten sie Letzteres, sie würden ergiebigere Folge¬<lb/>
rungen finden für öffentliches Leben, als die Wiederholung von All-<lb/>
tagSnotizen erwecken kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1031"> Das Urtheil im Publicum und das Urtheil in der Tagespreise<lb/>
über ein neues Theaterstück bedarf auch noch gar sehr der Ausbil¬<lb/>
dung. Dies hat sich mir aufgedrängt bei der Marquise von Bil¬<lb/>
lette.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1032"> Das Stück ist ganz und gar verschieden von dem, was wir<lb/>
sonst unter einem Birch-Pfeifferschen Stück verstehen, und dennoch les'<lb/>
ich hie und da, zum Beispiel so eben in einem Berichte aus Carls-<lb/>
ruh, Urtheile über das Stück, welche es ohne Weiteres mit Thomas<lb/>
Thyrnau und Mutter und Sohn in Eine Kategorie stellen und be¬<lb/>
seitigen. Solch ein Mangel an Geschmack oder an Gewissenhaftig¬<lb/>
keit ist sehr beunruhigend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1033" next="#ID_1034"> Ich schicke voraus, daß ich zu den entschiedensten Gegnern der<lb/>
Roman-Stücke von Frau Birch-Pfeiffer gehöre, und daß ich mit dem<lb/>
entschiedensten Mißtrauen an diese Marquise von Billette kam. Aber<lb/>
dies Stück ist grundverschieden von den übrigen Stücken der Ver¬<lb/>
fasserin. Es ist eine selbständige, mit vieler Geschicklichkeit behandelte<lb/>
Composiüon, die sich ganz organisch und großenteils anmuthig zum<lb/>
Schlüsse bringt. Das Thema ist: Lord Bolingbroke liebt die junge<lb/>
Billette, einen Schützling der Frau von Maintenon, und erobert sie<lb/>
sich zur Gattin mitten unter Intriguen des französischen Hofes. Er<lb/>
ist Friedcnsunterhändler mit dem greisen König Ludwig XIV., wel¬<lb/>
cher eine persönliche Vorliebe für die junge Marquise hegt; er ist<lb/>
Protestant und weicht nicht einen Fingerbreit von seiner diplomatischen<lb/>
Aufgabe und seinem Glauben und erobert sich die Gattin doch. Dies<lb/>
ist eine feine Aufgabe für ein Charaklerluftspiel. Die schwache Seite<lb/>
der Composition ist das zu weit gehende Eingreifen des Herzogs von<lb/>
Maine, welcher im vierten Akte den Lord Bolingbroke entführen läßt<lb/>
und vor einer verlarvten Gesellschaft sogenannter Jakobiten durch blanke<lb/>
Degengewalt zur Unterschreibung eines Friedenstraktates zwingen will.<lb/>
Hier muß Bolingbroke in etwas Theaterprinz werden, und das Grelle<lb/>
dieses Aktes geht über Linien und Farben des übrigen Ensembles<lb/>
und über die Grenzen geschichtlicher Wahrscheinlichkeit hinaus. Uebri-<lb/>
gens wäre zu den Mängeln nur hie und da eine plumpe Erwiede¬<lb/>
rung im Dialog zu rechnen. Aber auch diese ist selten, auch der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0356] ein neues Werk? Thäten sie Letzteres, sie würden ergiebigere Folge¬ rungen finden für öffentliches Leben, als die Wiederholung von All- tagSnotizen erwecken kann. Das Urtheil im Publicum und das Urtheil in der Tagespreise über ein neues Theaterstück bedarf auch noch gar sehr der Ausbil¬ dung. Dies hat sich mir aufgedrängt bei der Marquise von Bil¬ lette. Das Stück ist ganz und gar verschieden von dem, was wir sonst unter einem Birch-Pfeifferschen Stück verstehen, und dennoch les' ich hie und da, zum Beispiel so eben in einem Berichte aus Carls- ruh, Urtheile über das Stück, welche es ohne Weiteres mit Thomas Thyrnau und Mutter und Sohn in Eine Kategorie stellen und be¬ seitigen. Solch ein Mangel an Geschmack oder an Gewissenhaftig¬ keit ist sehr beunruhigend. Ich schicke voraus, daß ich zu den entschiedensten Gegnern der Roman-Stücke von Frau Birch-Pfeiffer gehöre, und daß ich mit dem entschiedensten Mißtrauen an diese Marquise von Billette kam. Aber dies Stück ist grundverschieden von den übrigen Stücken der Ver¬ fasserin. Es ist eine selbständige, mit vieler Geschicklichkeit behandelte Composiüon, die sich ganz organisch und großenteils anmuthig zum Schlüsse bringt. Das Thema ist: Lord Bolingbroke liebt die junge Billette, einen Schützling der Frau von Maintenon, und erobert sie sich zur Gattin mitten unter Intriguen des französischen Hofes. Er ist Friedcnsunterhändler mit dem greisen König Ludwig XIV., wel¬ cher eine persönliche Vorliebe für die junge Marquise hegt; er ist Protestant und weicht nicht einen Fingerbreit von seiner diplomatischen Aufgabe und seinem Glauben und erobert sich die Gattin doch. Dies ist eine feine Aufgabe für ein Charaklerluftspiel. Die schwache Seite der Composition ist das zu weit gehende Eingreifen des Herzogs von Maine, welcher im vierten Akte den Lord Bolingbroke entführen läßt und vor einer verlarvten Gesellschaft sogenannter Jakobiten durch blanke Degengewalt zur Unterschreibung eines Friedenstraktates zwingen will. Hier muß Bolingbroke in etwas Theaterprinz werden, und das Grelle dieses Aktes geht über Linien und Farben des übrigen Ensembles und über die Grenzen geschichtlicher Wahrscheinlichkeit hinaus. Uebri- gens wäre zu den Mängeln nur hie und da eine plumpe Erwiede¬ rung im Dialog zu rechnen. Aber auch diese ist selten, auch der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/356
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/356>, abgerufen am 22.07.2024.