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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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das Blatt in eine neue Phase; sein Gesichtspunkt erweiterte sich, aber
die nationale Grundfarbe blieb auch ferner sein Hauptelement, Leipzig
ist ein glücklicher Kreuzweg für deutsche Journalistik. Dresden und
Berlin als Nachbarstädte, Oesterreich durch die Eisenbahnen immer
naher gerückt, nach Mitteldeutschland und dem Rhein in einigen dreißig
Stunden correspondirend, erhalt es die Nachrichten aus den entgegen¬
gesetztesten Enden fast zu gleicher Zeit. Und doch paralvsirt dieser
große Vortheil doch keineswegs die Erbkrankheit der deutschen Presse,
den Mangel an einem Centralpunkt wie London und Paris. Nur
einigen wenigen Zeitungen gelang es durch große Mittel, diesen Man¬
gel theilweise -- nicht ganz! -- zu heben, indem sie namhafte Schrift¬
steller an den entgegengesetztesten Orten durch große Honorare veranlassen,
ihnen Zusendungen zu machen; der größte Theil unserer Tagespresse
aber, der keine solche Opfer bringen kann, muß sich mit dem begnü¬
gen, was ihm an localen Kräften zu Gebote steht oder was der Au¬
fall, die Parteileidenschaft oder der Dilettantismus ihm aus der Ferne
zuwirft. Durch solche wahllose Beitrage sind namentlich die Zeitschriften
versumpft. Denn in der That, was soll den Schriftsteller von Be¬
deutung verlocken, seine Thätigkeit einem Blatte zuzuwenden, das, ab¬
gesehen von allem pecuniairen Sporn, ihn nicht einmal durch seine
Nähe zur Mitwirkung reizt. Dazu gibt es noch eine Art von Mit¬
arbeitern, die keine Schriftsteller von Profession, einem Journale aber
oft wichtiger sind als diese, ich meine die Männer der Praxis, der Ad¬
ministration, die oft angeregt sind, über ihr Fach Mittheilungen zu
machen, wenn sie der Person des Redacteurs vertrauen können und
vor Indiskretionen sich gesichert wissen. Derlei Männer wagen es
fast nie, in die Fremde an unbekannte Redactionen zu schreiben und
thun sie es, so geschieht es anonym und die Redaction, die keine Ga¬
rantie für die Wahrheit hat> ist dann genöthigt, die Einsendung un¬
benutzt zu lassen.

Die Grenzboten, um nicht in das Schicksal der Europa und ähn¬
licher Zeitschriften zu verfallen, haben einen eigenthümlichen Weg ein¬
geschlagen. Der Redacteur dieser Blätter hat den Versuch gemacht,
dieselben abwechselnd aus verschiedenen großen Städten zu redigiren.
Ohne zu warten, was der Zufall ihm aus Wien, aus Berlin u. s. w.
bringen wird, hat er sich selbst dahin begeben, um sein Blatt wahrend
einiger Monate im Jahre von dort aus zu leiten. Er hat seinen
eigenen Eorrespondentcn gemacht, wo ihm ein solcher fehlte, bis er sich
die Mitwirkung solcher Männer errungen, die seine Gesinnung theilen
und für sein Blatt sich interessiren. Was an Briefen und Beiträgen in
Leipzig für die Grenzboten einläuft, wird ihm durch die Post nachge¬
schickt, und letztere nehmen dann ihren Weg wieder dorthin zurück. Die
Rubrik "Notizen" schreibt größtenteils unser geistvoller Mitarbei¬
ter, Herr I. Kaufmann, und die Leser werden wahrscheinlich diese


das Blatt in eine neue Phase; sein Gesichtspunkt erweiterte sich, aber
die nationale Grundfarbe blieb auch ferner sein Hauptelement, Leipzig
ist ein glücklicher Kreuzweg für deutsche Journalistik. Dresden und
Berlin als Nachbarstädte, Oesterreich durch die Eisenbahnen immer
naher gerückt, nach Mitteldeutschland und dem Rhein in einigen dreißig
Stunden correspondirend, erhalt es die Nachrichten aus den entgegen¬
gesetztesten Enden fast zu gleicher Zeit. Und doch paralvsirt dieser
große Vortheil doch keineswegs die Erbkrankheit der deutschen Presse,
den Mangel an einem Centralpunkt wie London und Paris. Nur
einigen wenigen Zeitungen gelang es durch große Mittel, diesen Man¬
gel theilweise — nicht ganz! — zu heben, indem sie namhafte Schrift¬
steller an den entgegengesetztesten Orten durch große Honorare veranlassen,
ihnen Zusendungen zu machen; der größte Theil unserer Tagespresse
aber, der keine solche Opfer bringen kann, muß sich mit dem begnü¬
gen, was ihm an localen Kräften zu Gebote steht oder was der Au¬
fall, die Parteileidenschaft oder der Dilettantismus ihm aus der Ferne
zuwirft. Durch solche wahllose Beitrage sind namentlich die Zeitschriften
versumpft. Denn in der That, was soll den Schriftsteller von Be¬
deutung verlocken, seine Thätigkeit einem Blatte zuzuwenden, das, ab¬
gesehen von allem pecuniairen Sporn, ihn nicht einmal durch seine
Nähe zur Mitwirkung reizt. Dazu gibt es noch eine Art von Mit¬
arbeitern, die keine Schriftsteller von Profession, einem Journale aber
oft wichtiger sind als diese, ich meine die Männer der Praxis, der Ad¬
ministration, die oft angeregt sind, über ihr Fach Mittheilungen zu
machen, wenn sie der Person des Redacteurs vertrauen können und
vor Indiskretionen sich gesichert wissen. Derlei Männer wagen es
fast nie, in die Fremde an unbekannte Redactionen zu schreiben und
thun sie es, so geschieht es anonym und die Redaction, die keine Ga¬
rantie für die Wahrheit hat> ist dann genöthigt, die Einsendung un¬
benutzt zu lassen.

Die Grenzboten, um nicht in das Schicksal der Europa und ähn¬
licher Zeitschriften zu verfallen, haben einen eigenthümlichen Weg ein¬
geschlagen. Der Redacteur dieser Blätter hat den Versuch gemacht,
dieselben abwechselnd aus verschiedenen großen Städten zu redigiren.
Ohne zu warten, was der Zufall ihm aus Wien, aus Berlin u. s. w.
bringen wird, hat er sich selbst dahin begeben, um sein Blatt wahrend
einiger Monate im Jahre von dort aus zu leiten. Er hat seinen
eigenen Eorrespondentcn gemacht, wo ihm ein solcher fehlte, bis er sich
die Mitwirkung solcher Männer errungen, die seine Gesinnung theilen
und für sein Blatt sich interessiren. Was an Briefen und Beiträgen in
Leipzig für die Grenzboten einläuft, wird ihm durch die Post nachge¬
schickt, und letztere nehmen dann ihren Weg wieder dorthin zurück. Die
Rubrik „Notizen" schreibt größtenteils unser geistvoller Mitarbei¬
ter, Herr I. Kaufmann, und die Leser werden wahrscheinlich diese


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[0352] das Blatt in eine neue Phase; sein Gesichtspunkt erweiterte sich, aber die nationale Grundfarbe blieb auch ferner sein Hauptelement, Leipzig ist ein glücklicher Kreuzweg für deutsche Journalistik. Dresden und Berlin als Nachbarstädte, Oesterreich durch die Eisenbahnen immer naher gerückt, nach Mitteldeutschland und dem Rhein in einigen dreißig Stunden correspondirend, erhalt es die Nachrichten aus den entgegen¬ gesetztesten Enden fast zu gleicher Zeit. Und doch paralvsirt dieser große Vortheil doch keineswegs die Erbkrankheit der deutschen Presse, den Mangel an einem Centralpunkt wie London und Paris. Nur einigen wenigen Zeitungen gelang es durch große Mittel, diesen Man¬ gel theilweise — nicht ganz! — zu heben, indem sie namhafte Schrift¬ steller an den entgegengesetztesten Orten durch große Honorare veranlassen, ihnen Zusendungen zu machen; der größte Theil unserer Tagespresse aber, der keine solche Opfer bringen kann, muß sich mit dem begnü¬ gen, was ihm an localen Kräften zu Gebote steht oder was der Au¬ fall, die Parteileidenschaft oder der Dilettantismus ihm aus der Ferne zuwirft. Durch solche wahllose Beitrage sind namentlich die Zeitschriften versumpft. Denn in der That, was soll den Schriftsteller von Be¬ deutung verlocken, seine Thätigkeit einem Blatte zuzuwenden, das, ab¬ gesehen von allem pecuniairen Sporn, ihn nicht einmal durch seine Nähe zur Mitwirkung reizt. Dazu gibt es noch eine Art von Mit¬ arbeitern, die keine Schriftsteller von Profession, einem Journale aber oft wichtiger sind als diese, ich meine die Männer der Praxis, der Ad¬ ministration, die oft angeregt sind, über ihr Fach Mittheilungen zu machen, wenn sie der Person des Redacteurs vertrauen können und vor Indiskretionen sich gesichert wissen. Derlei Männer wagen es fast nie, in die Fremde an unbekannte Redactionen zu schreiben und thun sie es, so geschieht es anonym und die Redaction, die keine Ga¬ rantie für die Wahrheit hat> ist dann genöthigt, die Einsendung un¬ benutzt zu lassen. Die Grenzboten, um nicht in das Schicksal der Europa und ähn¬ licher Zeitschriften zu verfallen, haben einen eigenthümlichen Weg ein¬ geschlagen. Der Redacteur dieser Blätter hat den Versuch gemacht, dieselben abwechselnd aus verschiedenen großen Städten zu redigiren. Ohne zu warten, was der Zufall ihm aus Wien, aus Berlin u. s. w. bringen wird, hat er sich selbst dahin begeben, um sein Blatt wahrend einiger Monate im Jahre von dort aus zu leiten. Er hat seinen eigenen Eorrespondentcn gemacht, wo ihm ein solcher fehlte, bis er sich die Mitwirkung solcher Männer errungen, die seine Gesinnung theilen und für sein Blatt sich interessiren. Was an Briefen und Beiträgen in Leipzig für die Grenzboten einläuft, wird ihm durch die Post nachge¬ schickt, und letztere nehmen dann ihren Weg wieder dorthin zurück. Die Rubrik „Notizen" schreibt größtenteils unser geistvoller Mitarbei¬ ter, Herr I. Kaufmann, und die Leser werden wahrscheinlich diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/352>, abgerufen am 23.07.2024.