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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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es schien mir Zeit, dazwischen zu treten. Monseigneur geben doch
wohl zu wenig auf die Macht des Glaubens, unterbrach ich die
peinliche Stille. Wunder sind noch alle Tage möglich; aber freilich
gehört die ganze entschlossene Willenskraft des Menschen dazu. Wenn
der Kranke, der Leidende sich leiblich und geistig vorbereitet, mit gan¬
zer Sehnsucht seiner Rettung nachstrebt, alle seine Kräfte zusammen¬
faßt, sich endlich wie in letzter Todesangst nach dem Gegenstand des
Heils hinschleppt, so kann ihm dort an geweihter Stätte das Wunder
der Erlösung werden, gleichviel, ob das Symbol seiner Anbetung eine
alte Reliquie, oder der goldpapierne Saum am Kleide der Mutter
Gottes ist. In der zusammengenommenen Seelenkraft des Menschen
liegt, was wir Wunder nennen, ob eS der Pöbel gleich, das Aeußere
mit dem Innern verwechselnd, dem Knochen des Heiligen oder der
Schleppe der Jungfrau Maria zuschreibt. In dem Willen, der sich
fest auf den einen Punkt hinbannt, liegt Allmacht. Und dies, Mon-
seigneur, nennen wir füglich den lebendigen Glauben. Mich dünkt,
hierüber könnten sich die Philosophen und alle christlichen Sekten ver-
einigen.

Der Reichsgraf stutzte und sah mich sprachlos an.

-- Und auf diese Weise, natur Burkhardt daS Wort, sind über¬
haupt die Wunder der Kirche, die wir als Thatsachen kennen, er¬
klärlich. Gefährlich Kranke sind, mit Ew. Erlaucht Erlaubniß, durch
die heilige Taufe, die letzte Oelung plötzlich gesund geworden. Der
alte Cultus mit seinen Beschwörungen, seinen Erorcismen, seiner
Weihung des Wassers und Feuers, seinem Hauchen an die Stirn der
Neophyten hat denn doch wohl in früheren Zeiten Wunder verübt,
die ein profanes, nachgebomes Geschlecht nicht mehr' kennt. Durch
die Kraft deö Glaubens machte Sanct Patrik in Irland die Blinden
sehend. Die alten Könige von Frankreich heilten die Kröpfe durch
Handauflegcn, die Grafen von Habsburg das Stammeln durch die
Berührung ihrer Lippen.

Der Reichsgraf war wieder unruhig geworden, räusperte sich,
warf seinen Pelz ab, als wenn es ihm zu schwül würde, und sah
uns bald staunend, bald drohend an. Ich weiß nicht, stürmte er
Burkhardt an, ich weiß nicht, wie so der Herr Pfarrer aus Genf
mir alte Heiligengeschichten vorreiten will. Hat denn das Genfer
Christenthum mit Jean Jacques wieder Kehrum gemacht? Ich bin


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es schien mir Zeit, dazwischen zu treten. Monseigneur geben doch
wohl zu wenig auf die Macht des Glaubens, unterbrach ich die
peinliche Stille. Wunder sind noch alle Tage möglich; aber freilich
gehört die ganze entschlossene Willenskraft des Menschen dazu. Wenn
der Kranke, der Leidende sich leiblich und geistig vorbereitet, mit gan¬
zer Sehnsucht seiner Rettung nachstrebt, alle seine Kräfte zusammen¬
faßt, sich endlich wie in letzter Todesangst nach dem Gegenstand des
Heils hinschleppt, so kann ihm dort an geweihter Stätte das Wunder
der Erlösung werden, gleichviel, ob das Symbol seiner Anbetung eine
alte Reliquie, oder der goldpapierne Saum am Kleide der Mutter
Gottes ist. In der zusammengenommenen Seelenkraft des Menschen
liegt, was wir Wunder nennen, ob eS der Pöbel gleich, das Aeußere
mit dem Innern verwechselnd, dem Knochen des Heiligen oder der
Schleppe der Jungfrau Maria zuschreibt. In dem Willen, der sich
fest auf den einen Punkt hinbannt, liegt Allmacht. Und dies, Mon-
seigneur, nennen wir füglich den lebendigen Glauben. Mich dünkt,
hierüber könnten sich die Philosophen und alle christlichen Sekten ver-
einigen.

Der Reichsgraf stutzte und sah mich sprachlos an.

— Und auf diese Weise, natur Burkhardt daS Wort, sind über¬
haupt die Wunder der Kirche, die wir als Thatsachen kennen, er¬
klärlich. Gefährlich Kranke sind, mit Ew. Erlaucht Erlaubniß, durch
die heilige Taufe, die letzte Oelung plötzlich gesund geworden. Der
alte Cultus mit seinen Beschwörungen, seinen Erorcismen, seiner
Weihung des Wassers und Feuers, seinem Hauchen an die Stirn der
Neophyten hat denn doch wohl in früheren Zeiten Wunder verübt,
die ein profanes, nachgebomes Geschlecht nicht mehr' kennt. Durch
die Kraft deö Glaubens machte Sanct Patrik in Irland die Blinden
sehend. Die alten Könige von Frankreich heilten die Kröpfe durch
Handauflegcn, die Grafen von Habsburg das Stammeln durch die
Berührung ihrer Lippen.

Der Reichsgraf war wieder unruhig geworden, räusperte sich,
warf seinen Pelz ab, als wenn es ihm zu schwül würde, und sah
uns bald staunend, bald drohend an. Ich weiß nicht, stürmte er
Burkhardt an, ich weiß nicht, wie so der Herr Pfarrer aus Genf
mir alte Heiligengeschichten vorreiten will. Hat denn das Genfer
Christenthum mit Jean Jacques wieder Kehrum gemacht? Ich bin


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[0309] es schien mir Zeit, dazwischen zu treten. Monseigneur geben doch wohl zu wenig auf die Macht des Glaubens, unterbrach ich die peinliche Stille. Wunder sind noch alle Tage möglich; aber freilich gehört die ganze entschlossene Willenskraft des Menschen dazu. Wenn der Kranke, der Leidende sich leiblich und geistig vorbereitet, mit gan¬ zer Sehnsucht seiner Rettung nachstrebt, alle seine Kräfte zusammen¬ faßt, sich endlich wie in letzter Todesangst nach dem Gegenstand des Heils hinschleppt, so kann ihm dort an geweihter Stätte das Wunder der Erlösung werden, gleichviel, ob das Symbol seiner Anbetung eine alte Reliquie, oder der goldpapierne Saum am Kleide der Mutter Gottes ist. In der zusammengenommenen Seelenkraft des Menschen liegt, was wir Wunder nennen, ob eS der Pöbel gleich, das Aeußere mit dem Innern verwechselnd, dem Knochen des Heiligen oder der Schleppe der Jungfrau Maria zuschreibt. In dem Willen, der sich fest auf den einen Punkt hinbannt, liegt Allmacht. Und dies, Mon- seigneur, nennen wir füglich den lebendigen Glauben. Mich dünkt, hierüber könnten sich die Philosophen und alle christlichen Sekten ver- einigen. Der Reichsgraf stutzte und sah mich sprachlos an. — Und auf diese Weise, natur Burkhardt daS Wort, sind über¬ haupt die Wunder der Kirche, die wir als Thatsachen kennen, er¬ klärlich. Gefährlich Kranke sind, mit Ew. Erlaucht Erlaubniß, durch die heilige Taufe, die letzte Oelung plötzlich gesund geworden. Der alte Cultus mit seinen Beschwörungen, seinen Erorcismen, seiner Weihung des Wassers und Feuers, seinem Hauchen an die Stirn der Neophyten hat denn doch wohl in früheren Zeiten Wunder verübt, die ein profanes, nachgebomes Geschlecht nicht mehr' kennt. Durch die Kraft deö Glaubens machte Sanct Patrik in Irland die Blinden sehend. Die alten Könige von Frankreich heilten die Kröpfe durch Handauflegcn, die Grafen von Habsburg das Stammeln durch die Berührung ihrer Lippen. Der Reichsgraf war wieder unruhig geworden, räusperte sich, warf seinen Pelz ab, als wenn es ihm zu schwül würde, und sah uns bald staunend, bald drohend an. Ich weiß nicht, stürmte er Burkhardt an, ich weiß nicht, wie so der Herr Pfarrer aus Genf mir alte Heiligengeschichten vorreiten will. Hat denn das Genfer Christenthum mit Jean Jacques wieder Kehrum gemacht? Ich bin 39 »

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/309>, abgerufen am 23.07.2024.