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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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innerungsfeste, welches seine erilirten Landsleute zum Andenke" an
die ersten Tage ihrer Revolution alljährlich im November feiern. ^)

Man behauptet, der Aufenthalt deö General Skrzynecki in Bel
gien sei die Ursache, basi Rußland, obgleich es jährlich für dreißig
Millionen Franken Waaren nach Belgien absetzt, doch keinen Ge¬
schäftsträger nach Brüssel geschickt hat; der wahre Grund jedoch ist,
weil der russische Hof die Revolutionen und die aus ihnen hervor¬
gegangenen Regierungen verabscheut. Eigentlich konnte man fragen,
warum sich Nußland zu einem so eifrigen Paladin der Legitimität
aufwirft. Wenn Oesterreich ein Verfechter des legitimen Prinzips
ist, so finden wir dies natürlich: in dem Familienkreise der Habs¬
burger hat nie ein blutiger Streich den Familienfaden durchschnitten:
nie hat eine Frau ihren Gatten ermordet; nie hat ein Vater den
Sohn, nie ein Bruder den andern gewaltsam verdrängt: dort, wo
das patriarchalische Recht der Familie seine heiligen Gesetze von Enkel
auf Urenkel vererbt, dort finden wir die Idee der Legitimität im Ein¬
klang mit der Geschichte. Aber in Nußland? Wenn dessen Geschichts¬
schreiber nicht an Gedächtnißschwäche leiden, müssen sie wohl an ge¬
wisse Data denken, als da sind, 1762 (30. Juli), 1764 (15. Juli),
oder 1801 (12. März), Wenn auch diese Jahreszahlen vielleicht
nicht Jedermann erinnerlich sind, so werden sicherlich doch folgende
Namen nicht vergessen sein: Peter 111., Iwan VI., Paul I. Die
Ehrfurcht vor der Legitimität ist also in Nußland nicht immer die
strengste gewesen. Höchst wahrscheinlich aber geht man in Nußland
von der Ansicht aus, daß die blutigen Umwälzungen von 1762,
1764 und 1801 Niemanden etwas angehen: man hält das für
kleine innere Streitigkeiten, für Familien-Angelegenheiten. Man
läßt seinen Gemahl, seinen Sohn, seinen Vater umbringen;
was liegt daran? Was hat sich das Volk um diese Einzel¬
heiten zu kümmern? Anstatt eines Kaisers gibt man ihm eine
Kaiserin oder einen andern Kaiser; was will es machen?... Die
Revolutionen, gegen die der russische Kaiser so viel stolze Verachtung
zeigt, das sind die Revolutionen, mit denen das Volk etwas zu thun
hat. Zu den aus solchen Umwälzungen hervorgegangenen Regie¬
rungen sagt Nußland nicht etwa: "Krieg bis zur Vernichtung," son-



") Weiteres über Lelewel und Skrzynecki siehe in dem Artikel: "Die pol¬
nische Emigration", Grenzboten 1843, zweites Semester.

innerungsfeste, welches seine erilirten Landsleute zum Andenke» an
die ersten Tage ihrer Revolution alljährlich im November feiern. ^)

Man behauptet, der Aufenthalt deö General Skrzynecki in Bel
gien sei die Ursache, basi Rußland, obgleich es jährlich für dreißig
Millionen Franken Waaren nach Belgien absetzt, doch keinen Ge¬
schäftsträger nach Brüssel geschickt hat; der wahre Grund jedoch ist,
weil der russische Hof die Revolutionen und die aus ihnen hervor¬
gegangenen Regierungen verabscheut. Eigentlich konnte man fragen,
warum sich Nußland zu einem so eifrigen Paladin der Legitimität
aufwirft. Wenn Oesterreich ein Verfechter des legitimen Prinzips
ist, so finden wir dies natürlich: in dem Familienkreise der Habs¬
burger hat nie ein blutiger Streich den Familienfaden durchschnitten:
nie hat eine Frau ihren Gatten ermordet; nie hat ein Vater den
Sohn, nie ein Bruder den andern gewaltsam verdrängt: dort, wo
das patriarchalische Recht der Familie seine heiligen Gesetze von Enkel
auf Urenkel vererbt, dort finden wir die Idee der Legitimität im Ein¬
klang mit der Geschichte. Aber in Nußland? Wenn dessen Geschichts¬
schreiber nicht an Gedächtnißschwäche leiden, müssen sie wohl an ge¬
wisse Data denken, als da sind, 1762 (30. Juli), 1764 (15. Juli),
oder 1801 (12. März), Wenn auch diese Jahreszahlen vielleicht
nicht Jedermann erinnerlich sind, so werden sicherlich doch folgende
Namen nicht vergessen sein: Peter 111., Iwan VI., Paul I. Die
Ehrfurcht vor der Legitimität ist also in Nußland nicht immer die
strengste gewesen. Höchst wahrscheinlich aber geht man in Nußland
von der Ansicht aus, daß die blutigen Umwälzungen von 1762,
1764 und 1801 Niemanden etwas angehen: man hält das für
kleine innere Streitigkeiten, für Familien-Angelegenheiten. Man
läßt seinen Gemahl, seinen Sohn, seinen Vater umbringen;
was liegt daran? Was hat sich das Volk um diese Einzel¬
heiten zu kümmern? Anstatt eines Kaisers gibt man ihm eine
Kaiserin oder einen andern Kaiser; was will es machen?... Die
Revolutionen, gegen die der russische Kaiser so viel stolze Verachtung
zeigt, das sind die Revolutionen, mit denen das Volk etwas zu thun
hat. Zu den aus solchen Umwälzungen hervorgegangenen Regie¬
rungen sagt Nußland nicht etwa: „Krieg bis zur Vernichtung," son-



») Weiteres über Lelewel und Skrzynecki siehe in dem Artikel: „Die pol¬
nische Emigration", Grenzboten 1843, zweites Semester.
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[0020] innerungsfeste, welches seine erilirten Landsleute zum Andenke» an die ersten Tage ihrer Revolution alljährlich im November feiern. ^) Man behauptet, der Aufenthalt deö General Skrzynecki in Bel gien sei die Ursache, basi Rußland, obgleich es jährlich für dreißig Millionen Franken Waaren nach Belgien absetzt, doch keinen Ge¬ schäftsträger nach Brüssel geschickt hat; der wahre Grund jedoch ist, weil der russische Hof die Revolutionen und die aus ihnen hervor¬ gegangenen Regierungen verabscheut. Eigentlich konnte man fragen, warum sich Nußland zu einem so eifrigen Paladin der Legitimität aufwirft. Wenn Oesterreich ein Verfechter des legitimen Prinzips ist, so finden wir dies natürlich: in dem Familienkreise der Habs¬ burger hat nie ein blutiger Streich den Familienfaden durchschnitten: nie hat eine Frau ihren Gatten ermordet; nie hat ein Vater den Sohn, nie ein Bruder den andern gewaltsam verdrängt: dort, wo das patriarchalische Recht der Familie seine heiligen Gesetze von Enkel auf Urenkel vererbt, dort finden wir die Idee der Legitimität im Ein¬ klang mit der Geschichte. Aber in Nußland? Wenn dessen Geschichts¬ schreiber nicht an Gedächtnißschwäche leiden, müssen sie wohl an ge¬ wisse Data denken, als da sind, 1762 (30. Juli), 1764 (15. Juli), oder 1801 (12. März), Wenn auch diese Jahreszahlen vielleicht nicht Jedermann erinnerlich sind, so werden sicherlich doch folgende Namen nicht vergessen sein: Peter 111., Iwan VI., Paul I. Die Ehrfurcht vor der Legitimität ist also in Nußland nicht immer die strengste gewesen. Höchst wahrscheinlich aber geht man in Nußland von der Ansicht aus, daß die blutigen Umwälzungen von 1762, 1764 und 1801 Niemanden etwas angehen: man hält das für kleine innere Streitigkeiten, für Familien-Angelegenheiten. Man läßt seinen Gemahl, seinen Sohn, seinen Vater umbringen; was liegt daran? Was hat sich das Volk um diese Einzel¬ heiten zu kümmern? Anstatt eines Kaisers gibt man ihm eine Kaiserin oder einen andern Kaiser; was will es machen?... Die Revolutionen, gegen die der russische Kaiser so viel stolze Verachtung zeigt, das sind die Revolutionen, mit denen das Volk etwas zu thun hat. Zu den aus solchen Umwälzungen hervorgegangenen Regie¬ rungen sagt Nußland nicht etwa: „Krieg bis zur Vernichtung," son- ») Weiteres über Lelewel und Skrzynecki siehe in dem Artikel: „Die pol¬ nische Emigration", Grenzboten 1843, zweites Semester.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/20>, abgerufen am 22.07.2024.