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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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sich auch in anderen deutschen Geschichten finden, eben der Verwandt¬
schaft wegen. Die Kritik würde am historischen Nimbus manches
deutschen Staates flicken, wenn er nicht zum freien und einigen deut¬
schen Bund gehörte.

-- Während immer mehr historische Gestalten sich zur Mythe
verwandeln, wollen die unsinnigsten modernen Fabeln Wahrheit wer¬
den. Die Dame mit dem Todtenkopf - die "Seeschlange" der deut¬
schen Journalistik -- die das kritische Berliner Publicum alle Jahre
einmal zum Aberglauben verleitet hat, soll nun wirklich geworden sein.
Ein medicinisches Journal bringt einen Bericht darüber von Dieffen-
bach, welcher die Unglückliche unter den abenteuerlichsten Umständen
kennen lernte und von ihr verfolgt wurde, bis er sie gründlich heilte;
so gründlich, daß sie jetzt Balle und Concerte ohne Schleier besucht.
Die Gespensterromantik hat sich also in die Chirurgie geflüchtet, die
Geister verwandeln sich in Skropheln und die erlösenden Ritter in ge¬
schickte Operateurs.

-- Der französische Cultusminister Villemain ist vor lauter po¬
litischen Anstrengungen geisteskrank geworden. Er sprang im Delirium
aus dem Fenster seines Hotels, wie die Zeitungen melden. In Deutsch¬
land kann dergleichen nur einem Dichter passiren; ein Minister braucht
sich kein graues Haar wachsen zu lassen, er ist ja unverantwortlich.
Sein König muß sein Sündenbock sein und kann es mit leichtem
Humor, denn die Ma>estät ist wieder nur verantwortlich vor Gott.

-- Die Akademie von Se. Petersburg, die sich mit meteorologi¬
schen und atmosphärischen Forschungen viel beschäftigt, hat die Ent¬
deckung gemacht, daß in Sibirien seit dem verhängnißvollen Jahre
1830 eine merkwürdige Veränderung eingetreten ist. Die Kälte ist fast
in keinem Winter über 28 Grad gestiegen, das Quecksilber hat in
Jrkutzk zu gefrieren aufgehört, es wird mit jedem Jahre wärmer in
Sibirien. Ja zuletzt wird es wahr werden, was Gretsch von einem
Verbannten sagte, derselbe müsse zur Strafe dort die Blumen begie-
ßen. Der Himmel nämlich erbarmte sich der vielen patriotischen Mär¬
tyrer, die in der Eiswüste schmachten seit I83V, und hat den Nord¬
winden befohlen, gelinder zu wehen. -- Letzteres sagt aber nicht die
Akademie von Se. Petersburg; es ist nur eine fromme polnische
Mythe.




Verlag von Fr. Ludw. Hcrbia. -- Redacteur I. jluranda
Druck von Friedrich Andrä.

sich auch in anderen deutschen Geschichten finden, eben der Verwandt¬
schaft wegen. Die Kritik würde am historischen Nimbus manches
deutschen Staates flicken, wenn er nicht zum freien und einigen deut¬
schen Bund gehörte.

— Während immer mehr historische Gestalten sich zur Mythe
verwandeln, wollen die unsinnigsten modernen Fabeln Wahrheit wer¬
den. Die Dame mit dem Todtenkopf - die „Seeschlange" der deut¬
schen Journalistik — die das kritische Berliner Publicum alle Jahre
einmal zum Aberglauben verleitet hat, soll nun wirklich geworden sein.
Ein medicinisches Journal bringt einen Bericht darüber von Dieffen-
bach, welcher die Unglückliche unter den abenteuerlichsten Umständen
kennen lernte und von ihr verfolgt wurde, bis er sie gründlich heilte;
so gründlich, daß sie jetzt Balle und Concerte ohne Schleier besucht.
Die Gespensterromantik hat sich also in die Chirurgie geflüchtet, die
Geister verwandeln sich in Skropheln und die erlösenden Ritter in ge¬
schickte Operateurs.

— Der französische Cultusminister Villemain ist vor lauter po¬
litischen Anstrengungen geisteskrank geworden. Er sprang im Delirium
aus dem Fenster seines Hotels, wie die Zeitungen melden. In Deutsch¬
land kann dergleichen nur einem Dichter passiren; ein Minister braucht
sich kein graues Haar wachsen zu lassen, er ist ja unverantwortlich.
Sein König muß sein Sündenbock sein und kann es mit leichtem
Humor, denn die Ma>estät ist wieder nur verantwortlich vor Gott.

— Die Akademie von Se. Petersburg, die sich mit meteorologi¬
schen und atmosphärischen Forschungen viel beschäftigt, hat die Ent¬
deckung gemacht, daß in Sibirien seit dem verhängnißvollen Jahre
1830 eine merkwürdige Veränderung eingetreten ist. Die Kälte ist fast
in keinem Winter über 28 Grad gestiegen, das Quecksilber hat in
Jrkutzk zu gefrieren aufgehört, es wird mit jedem Jahre wärmer in
Sibirien. Ja zuletzt wird es wahr werden, was Gretsch von einem
Verbannten sagte, derselbe müsse zur Strafe dort die Blumen begie-
ßen. Der Himmel nämlich erbarmte sich der vielen patriotischen Mär¬
tyrer, die in der Eiswüste schmachten seit I83V, und hat den Nord¬
winden befohlen, gelinder zu wehen. — Letzteres sagt aber nicht die
Akademie von Se. Petersburg; es ist nur eine fromme polnische
Mythe.




Verlag von Fr. Ludw. Hcrbia. — Redacteur I. jluranda
Druck von Friedrich Andrä.
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[0154] sich auch in anderen deutschen Geschichten finden, eben der Verwandt¬ schaft wegen. Die Kritik würde am historischen Nimbus manches deutschen Staates flicken, wenn er nicht zum freien und einigen deut¬ schen Bund gehörte. — Während immer mehr historische Gestalten sich zur Mythe verwandeln, wollen die unsinnigsten modernen Fabeln Wahrheit wer¬ den. Die Dame mit dem Todtenkopf - die „Seeschlange" der deut¬ schen Journalistik — die das kritische Berliner Publicum alle Jahre einmal zum Aberglauben verleitet hat, soll nun wirklich geworden sein. Ein medicinisches Journal bringt einen Bericht darüber von Dieffen- bach, welcher die Unglückliche unter den abenteuerlichsten Umständen kennen lernte und von ihr verfolgt wurde, bis er sie gründlich heilte; so gründlich, daß sie jetzt Balle und Concerte ohne Schleier besucht. Die Gespensterromantik hat sich also in die Chirurgie geflüchtet, die Geister verwandeln sich in Skropheln und die erlösenden Ritter in ge¬ schickte Operateurs. — Der französische Cultusminister Villemain ist vor lauter po¬ litischen Anstrengungen geisteskrank geworden. Er sprang im Delirium aus dem Fenster seines Hotels, wie die Zeitungen melden. In Deutsch¬ land kann dergleichen nur einem Dichter passiren; ein Minister braucht sich kein graues Haar wachsen zu lassen, er ist ja unverantwortlich. Sein König muß sein Sündenbock sein und kann es mit leichtem Humor, denn die Ma>estät ist wieder nur verantwortlich vor Gott. — Die Akademie von Se. Petersburg, die sich mit meteorologi¬ schen und atmosphärischen Forschungen viel beschäftigt, hat die Ent¬ deckung gemacht, daß in Sibirien seit dem verhängnißvollen Jahre 1830 eine merkwürdige Veränderung eingetreten ist. Die Kälte ist fast in keinem Winter über 28 Grad gestiegen, das Quecksilber hat in Jrkutzk zu gefrieren aufgehört, es wird mit jedem Jahre wärmer in Sibirien. Ja zuletzt wird es wahr werden, was Gretsch von einem Verbannten sagte, derselbe müsse zur Strafe dort die Blumen begie- ßen. Der Himmel nämlich erbarmte sich der vielen patriotischen Mär¬ tyrer, die in der Eiswüste schmachten seit I83V, und hat den Nord¬ winden befohlen, gelinder zu wehen. — Letzteres sagt aber nicht die Akademie von Se. Petersburg; es ist nur eine fromme polnische Mythe. Verlag von Fr. Ludw. Hcrbia. — Redacteur I. jluranda Druck von Friedrich Andrä.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/154>, abgerufen am 22.07.2024.