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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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merken, für die wir in München nicht einmal einen eigenen Lehrstuhl
besitzen. Wie von unseren Philosophen, lernt man an vielen unserer
Gymnasien auch von unseren Dichtern und Literatoren kaum mehr
als den Namen kennen. Und wie ist es nun möglich, ohne leitende
Hand in dem Labyrinthe unserer neuesten Literatur sich zurecht zu
finden auf dem schwer zu treffenden Pfad, und sich nicht in den bo¬
denlosen Abgrund der Zerstreuung, der Ertödtung der Aufmerksamkeit,
der Zersplitterung der Kräfte und der allgemeinen Verflachung zu
verlieren? Ja, nicht einmal für die alt- und mittelhochdeutsche Sprache
und Literatur haben wir seit Maßmann's Abgang einen Vertre¬
ter, und von dieser dürfte man doch nicht befürchten, daß sie in die
jungen Köpfe politischen Schwindel trage. Man wird mir zwar
sagen, es sei auch auf anderen Hochschulen um diese Sache nicht
viel besser beschaffen, und leider mag es wahr sein, daß keine dersel¬
ben ihre Aufgabe für die Jetztzeit erfaßt hat. Um hier, von der neuen
Literatur auf die alte Literatur übergehend, einiges zu bemerken, so
haben wir zwar hier den berühmten Philologen Thiersch; daß aber
auch seine, sich mehr mit der Form als mit dem Geist der Autoren
befassenden Vortrage nicht im Stande sind, der Jugend Interesse ein¬
zuflößen, beweisen die sehr gelichteten Raum?e seines Auditoriums.
Hier bin ich bei einem Punkte angelangt, über den sich wohl eine
weitere Auseinandersetzung verlohnt, die ich mir aber für ein ande¬
res Mal vorbehalten muß, beim Collegienfleiß. Daß er unter den
geschilderten Zuständen unserer philosophischen Facultät ein sehr zwei¬
felhafter ist, hat mich nie sehr gewundert. Man lebt überhaupt hier
der Ansicht, daß die zwei Jahre des philosophischen Kurses dazu
dienen, um sich von den Strapazen des Gymnasiums zu erholen
und, Kräfte sammelnd (d. i. physische), für das Fachstudium sich vor¬
zubereiten; wahrlich, eine herrliche Vorbereitung! Von einem Besuch
Philosophischer Vorträge von Seite der sogenannten Fachstudenten ist
bei uns keine Rede. Bei der großen Menge von Concurrenten um
Anstellung im Staatsdienste muß man all seinen Eifer auf das Fach
verwenden: damit entschuldigt man sich vor der Welt, oder, falls
diese nicht darnach frägt, vor sich selbst. Nirgends mag der stehend
gewordene Ausdruck "trockener Jurist" mit größerem Rechte gebraucht
werden, als bei uns; doch es gehört wirklich Trockenheit, ja eine
Trockenheit bis zur Verknöcherung dazu, um heut zu Tage Jurist,


merken, für die wir in München nicht einmal einen eigenen Lehrstuhl
besitzen. Wie von unseren Philosophen, lernt man an vielen unserer
Gymnasien auch von unseren Dichtern und Literatoren kaum mehr
als den Namen kennen. Und wie ist es nun möglich, ohne leitende
Hand in dem Labyrinthe unserer neuesten Literatur sich zurecht zu
finden auf dem schwer zu treffenden Pfad, und sich nicht in den bo¬
denlosen Abgrund der Zerstreuung, der Ertödtung der Aufmerksamkeit,
der Zersplitterung der Kräfte und der allgemeinen Verflachung zu
verlieren? Ja, nicht einmal für die alt- und mittelhochdeutsche Sprache
und Literatur haben wir seit Maßmann's Abgang einen Vertre¬
ter, und von dieser dürfte man doch nicht befürchten, daß sie in die
jungen Köpfe politischen Schwindel trage. Man wird mir zwar
sagen, es sei auch auf anderen Hochschulen um diese Sache nicht
viel besser beschaffen, und leider mag es wahr sein, daß keine dersel¬
ben ihre Aufgabe für die Jetztzeit erfaßt hat. Um hier, von der neuen
Literatur auf die alte Literatur übergehend, einiges zu bemerken, so
haben wir zwar hier den berühmten Philologen Thiersch; daß aber
auch seine, sich mehr mit der Form als mit dem Geist der Autoren
befassenden Vortrage nicht im Stande sind, der Jugend Interesse ein¬
zuflößen, beweisen die sehr gelichteten Raum?e seines Auditoriums.
Hier bin ich bei einem Punkte angelangt, über den sich wohl eine
weitere Auseinandersetzung verlohnt, die ich mir aber für ein ande¬
res Mal vorbehalten muß, beim Collegienfleiß. Daß er unter den
geschilderten Zuständen unserer philosophischen Facultät ein sehr zwei¬
felhafter ist, hat mich nie sehr gewundert. Man lebt überhaupt hier
der Ansicht, daß die zwei Jahre des philosophischen Kurses dazu
dienen, um sich von den Strapazen des Gymnasiums zu erholen
und, Kräfte sammelnd (d. i. physische), für das Fachstudium sich vor¬
zubereiten; wahrlich, eine herrliche Vorbereitung! Von einem Besuch
Philosophischer Vorträge von Seite der sogenannten Fachstudenten ist
bei uns keine Rede. Bei der großen Menge von Concurrenten um
Anstellung im Staatsdienste muß man all seinen Eifer auf das Fach
verwenden: damit entschuldigt man sich vor der Welt, oder, falls
diese nicht darnach frägt, vor sich selbst. Nirgends mag der stehend
gewordene Ausdruck „trockener Jurist" mit größerem Rechte gebraucht
werden, als bei uns; doch es gehört wirklich Trockenheit, ja eine
Trockenheit bis zur Verknöcherung dazu, um heut zu Tage Jurist,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/83>, abgerufen am 01.09.2024.