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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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bei den Anhängern derjenigen Secte, die er bekämpfen sollte -- und
wäre dies ohne allen Vortheil geblieben? Warum es Schelling jetzt
vorzieht, seine fünftausend Thaler als Geschenk statt als Honorar
für seine Vorlesungen zu beziehen, kann ich hier in München um so
weniger bestimmen, da es die Berliner selbst nicht enträthseln zu kön¬
nen scheinen. -- Man wird mir vielleicht entgegnen: wir lieben mehr
das Reale, als das Ideale; mehr das Concrete, als das Abstracte;
mehr die That, als die Speculation -- mehr die Philosophie der
Geschichte, als deS bloßen Gedankens. O ja, wir hören in Mün¬
chen auch Geschichte, Geschichte aller Zeiten, nur nicht der unseren.
ES hat zwar ein Professor ein Privatissimum über neueste Geschichte
angekündigt -- man merke, Privatissimum I Gemeingut darf eine
solche Erkenntniß nicht werden; es reicht ja hin, wenn um die be¬
mittelte Aristokratie mit den Zuständen unserer Tage vertraut wird!
Leider haben aber diejenigen, die Geld besitzen, oft nicht Lust zu au¬
ßerordentlichen Gegenständen; die Lust haben, oft hinwiederum nicht
das Geld für solche Collegien, und somit ward auch durch dieses
Privatisstmum nur wenig erzweckt. Freilich gibt man uns auch von
der früheren Zeit nicht viel mehr zu kosten, als die Facta, die wir
von der lateinischen Schule herauf, das ganze Gymnasium hindurch,
bereits gelernt, vergessen und wieder gelernt haben; die ewige Weihe
des Genius, der ordnende Weltgeist der Geschichte, der gewaltige
Hauch des Völkerlebens feiert nur selten seine Apotheose. Die hei¬
lige Scheu, die man vor der Gegenwart hat, kamt nirgends verder¬
benbringender werden, als in der Behandlung der Geschichte. Wie
sollen wir die künftige Zeit ungestalten helfen, wenn wir nicht in
die Kenntniß der gegenwärtigen eingeweiht werden? Oder sollen wir
durch Selbststudium zu dieser Kenntniß gelangen; wozu bedarf es
dann noch der historischen Vorträge? Wie ist es überhaupt für einen
jungen Mann möglich, aus dem todten Buchstaben der mehr oder
minder unvollkommenen, meist sich widersprechenden Handbücher sich
eitle klare Anschauung zu verschaffen oder aus den Berichten der
Zeitungen, die neben dem Wahren Hohles, Halbes und Haltloses in
bunter Menge enthalten, zu einer richtigen Auffassung und gerechten
Würdigung der ihn umgebenden Mitwelt zu gelangen. Das Gleiche,
um bei der Gegenwart stehen zu bleiben, wie über unsere polittsche
Geschichte, bleibt mir über die Geschichte unserer Literatur zu be-


bei den Anhängern derjenigen Secte, die er bekämpfen sollte — und
wäre dies ohne allen Vortheil geblieben? Warum es Schelling jetzt
vorzieht, seine fünftausend Thaler als Geschenk statt als Honorar
für seine Vorlesungen zu beziehen, kann ich hier in München um so
weniger bestimmen, da es die Berliner selbst nicht enträthseln zu kön¬
nen scheinen. — Man wird mir vielleicht entgegnen: wir lieben mehr
das Reale, als das Ideale; mehr das Concrete, als das Abstracte;
mehr die That, als die Speculation — mehr die Philosophie der
Geschichte, als deS bloßen Gedankens. O ja, wir hören in Mün¬
chen auch Geschichte, Geschichte aller Zeiten, nur nicht der unseren.
ES hat zwar ein Professor ein Privatissimum über neueste Geschichte
angekündigt — man merke, Privatissimum I Gemeingut darf eine
solche Erkenntniß nicht werden; es reicht ja hin, wenn um die be¬
mittelte Aristokratie mit den Zuständen unserer Tage vertraut wird!
Leider haben aber diejenigen, die Geld besitzen, oft nicht Lust zu au¬
ßerordentlichen Gegenständen; die Lust haben, oft hinwiederum nicht
das Geld für solche Collegien, und somit ward auch durch dieses
Privatisstmum nur wenig erzweckt. Freilich gibt man uns auch von
der früheren Zeit nicht viel mehr zu kosten, als die Facta, die wir
von der lateinischen Schule herauf, das ganze Gymnasium hindurch,
bereits gelernt, vergessen und wieder gelernt haben; die ewige Weihe
des Genius, der ordnende Weltgeist der Geschichte, der gewaltige
Hauch des Völkerlebens feiert nur selten seine Apotheose. Die hei¬
lige Scheu, die man vor der Gegenwart hat, kamt nirgends verder¬
benbringender werden, als in der Behandlung der Geschichte. Wie
sollen wir die künftige Zeit ungestalten helfen, wenn wir nicht in
die Kenntniß der gegenwärtigen eingeweiht werden? Oder sollen wir
durch Selbststudium zu dieser Kenntniß gelangen; wozu bedarf es
dann noch der historischen Vorträge? Wie ist es überhaupt für einen
jungen Mann möglich, aus dem todten Buchstaben der mehr oder
minder unvollkommenen, meist sich widersprechenden Handbücher sich
eitle klare Anschauung zu verschaffen oder aus den Berichten der
Zeitungen, die neben dem Wahren Hohles, Halbes und Haltloses in
bunter Menge enthalten, zu einer richtigen Auffassung und gerechten
Würdigung der ihn umgebenden Mitwelt zu gelangen. Das Gleiche,
um bei der Gegenwart stehen zu bleiben, wie über unsere polittsche
Geschichte, bleibt mir über die Geschichte unserer Literatur zu be-


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[0082] bei den Anhängern derjenigen Secte, die er bekämpfen sollte — und wäre dies ohne allen Vortheil geblieben? Warum es Schelling jetzt vorzieht, seine fünftausend Thaler als Geschenk statt als Honorar für seine Vorlesungen zu beziehen, kann ich hier in München um so weniger bestimmen, da es die Berliner selbst nicht enträthseln zu kön¬ nen scheinen. — Man wird mir vielleicht entgegnen: wir lieben mehr das Reale, als das Ideale; mehr das Concrete, als das Abstracte; mehr die That, als die Speculation — mehr die Philosophie der Geschichte, als deS bloßen Gedankens. O ja, wir hören in Mün¬ chen auch Geschichte, Geschichte aller Zeiten, nur nicht der unseren. ES hat zwar ein Professor ein Privatissimum über neueste Geschichte angekündigt — man merke, Privatissimum I Gemeingut darf eine solche Erkenntniß nicht werden; es reicht ja hin, wenn um die be¬ mittelte Aristokratie mit den Zuständen unserer Tage vertraut wird! Leider haben aber diejenigen, die Geld besitzen, oft nicht Lust zu au¬ ßerordentlichen Gegenständen; die Lust haben, oft hinwiederum nicht das Geld für solche Collegien, und somit ward auch durch dieses Privatisstmum nur wenig erzweckt. Freilich gibt man uns auch von der früheren Zeit nicht viel mehr zu kosten, als die Facta, die wir von der lateinischen Schule herauf, das ganze Gymnasium hindurch, bereits gelernt, vergessen und wieder gelernt haben; die ewige Weihe des Genius, der ordnende Weltgeist der Geschichte, der gewaltige Hauch des Völkerlebens feiert nur selten seine Apotheose. Die hei¬ lige Scheu, die man vor der Gegenwart hat, kamt nirgends verder¬ benbringender werden, als in der Behandlung der Geschichte. Wie sollen wir die künftige Zeit ungestalten helfen, wenn wir nicht in die Kenntniß der gegenwärtigen eingeweiht werden? Oder sollen wir durch Selbststudium zu dieser Kenntniß gelangen; wozu bedarf es dann noch der historischen Vorträge? Wie ist es überhaupt für einen jungen Mann möglich, aus dem todten Buchstaben der mehr oder minder unvollkommenen, meist sich widersprechenden Handbücher sich eitle klare Anschauung zu verschaffen oder aus den Berichten der Zeitungen, die neben dem Wahren Hohles, Halbes und Haltloses in bunter Menge enthalten, zu einer richtigen Auffassung und gerechten Würdigung der ihn umgebenden Mitwelt zu gelangen. Das Gleiche, um bei der Gegenwart stehen zu bleiben, wie über unsere polittsche Geschichte, bleibt mir über die Geschichte unserer Literatur zu be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/82>, abgerufen am 01.09.2024.