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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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Die Philosophie in München.



Eine Correspondenz aus Leipzig in der Augsburger Allgemeinen
(welche in der nämlichen Zeitung bereits eine berichtigende Entgeg¬
nung fand) erklärt Göttingen und Leipzig für die am meisten un¬
philosophischen Hochschulen Deutschlands und sucht die Ursache die¬
ser Erscheinung darin, daß an beiden die Herbart'sche Lehre die allein
giltige sei. Diese Behauptung erweckte in mir unwillkürlich den Ge¬
danken, ob die philosophische Facultät in München ihren beiden nord¬
deutschen Schwestern im Nichtsein dessen, was sie sein sollte, es wohl
nicht zuvorthäte. Ich kenne Göttingen und Leipzig nicht aus eigener
Anschauung, sondern nur aus Nachrichten von Studirenden, welche
beide Universitäten besuchten, aus öffentlichen Mittheilungen und den
Vorles-Katalogen z ich brauche auch den Werth oder Unwerth der
Herbart'schen Schule hier nicht zu würdigen; ich will nur untersu¬
chen, in wie weit die philosophische Facultät in München diese Be¬
zeichnung überhaupt verdient, woraus sich ihr Verhältniß zu den
übrigen deutschen Hochschulen von selbst ergeben soll.

Würde ein Kollegium über Logik, Metaphysik, Ethik, Psycholo¬
gie und Religionsphilosophie hinreichen, eine philosophische Facultät
zu begründen, so hätten wir dieselbe in ziemlicher Vollkommenheit auch
in München. Erhard's Vorträge über die ersten drei der genann¬
ten Gegenstände sind, als schulgerechte Behandlung derselben, sogar
trefflich zu nennen; allein eben der Umstand, daß sich bezeichneter
Professor bei seinen Vorträgen genau an sein gedrucktes Handbuch
hält, stört die Form des freien, wissenschaftlichen Vortrags und läßt
den Zuhörer kaum über die am Gymnasium gewohnte, an das Buch
gewurzelt?, durch den Buchstaben vermittelte Erfassung des Gedan¬
kens hinauskommen und zu der unmittelbaren, durch das lebendige
Wort gegebenen, freien Anschauung sich erheben. Erhard mag dabei


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Die Philosophie in München.



Eine Correspondenz aus Leipzig in der Augsburger Allgemeinen
(welche in der nämlichen Zeitung bereits eine berichtigende Entgeg¬
nung fand) erklärt Göttingen und Leipzig für die am meisten un¬
philosophischen Hochschulen Deutschlands und sucht die Ursache die¬
ser Erscheinung darin, daß an beiden die Herbart'sche Lehre die allein
giltige sei. Diese Behauptung erweckte in mir unwillkürlich den Ge¬
danken, ob die philosophische Facultät in München ihren beiden nord¬
deutschen Schwestern im Nichtsein dessen, was sie sein sollte, es wohl
nicht zuvorthäte. Ich kenne Göttingen und Leipzig nicht aus eigener
Anschauung, sondern nur aus Nachrichten von Studirenden, welche
beide Universitäten besuchten, aus öffentlichen Mittheilungen und den
Vorles-Katalogen z ich brauche auch den Werth oder Unwerth der
Herbart'schen Schule hier nicht zu würdigen; ich will nur untersu¬
chen, in wie weit die philosophische Facultät in München diese Be¬
zeichnung überhaupt verdient, woraus sich ihr Verhältniß zu den
übrigen deutschen Hochschulen von selbst ergeben soll.

Würde ein Kollegium über Logik, Metaphysik, Ethik, Psycholo¬
gie und Religionsphilosophie hinreichen, eine philosophische Facultät
zu begründen, so hätten wir dieselbe in ziemlicher Vollkommenheit auch
in München. Erhard's Vorträge über die ersten drei der genann¬
ten Gegenstände sind, als schulgerechte Behandlung derselben, sogar
trefflich zu nennen; allein eben der Umstand, daß sich bezeichneter
Professor bei seinen Vorträgen genau an sein gedrucktes Handbuch
hält, stört die Form des freien, wissenschaftlichen Vortrags und läßt
den Zuhörer kaum über die am Gymnasium gewohnte, an das Buch
gewurzelt?, durch den Buchstaben vermittelte Erfassung des Gedan¬
kens hinauskommen und zu der unmittelbaren, durch das lebendige
Wort gegebenen, freien Anschauung sich erheben. Erhard mag dabei


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[0079] Die Philosophie in München. Eine Correspondenz aus Leipzig in der Augsburger Allgemeinen (welche in der nämlichen Zeitung bereits eine berichtigende Entgeg¬ nung fand) erklärt Göttingen und Leipzig für die am meisten un¬ philosophischen Hochschulen Deutschlands und sucht die Ursache die¬ ser Erscheinung darin, daß an beiden die Herbart'sche Lehre die allein giltige sei. Diese Behauptung erweckte in mir unwillkürlich den Ge¬ danken, ob die philosophische Facultät in München ihren beiden nord¬ deutschen Schwestern im Nichtsein dessen, was sie sein sollte, es wohl nicht zuvorthäte. Ich kenne Göttingen und Leipzig nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus Nachrichten von Studirenden, welche beide Universitäten besuchten, aus öffentlichen Mittheilungen und den Vorles-Katalogen z ich brauche auch den Werth oder Unwerth der Herbart'schen Schule hier nicht zu würdigen; ich will nur untersu¬ chen, in wie weit die philosophische Facultät in München diese Be¬ zeichnung überhaupt verdient, woraus sich ihr Verhältniß zu den übrigen deutschen Hochschulen von selbst ergeben soll. Würde ein Kollegium über Logik, Metaphysik, Ethik, Psycholo¬ gie und Religionsphilosophie hinreichen, eine philosophische Facultät zu begründen, so hätten wir dieselbe in ziemlicher Vollkommenheit auch in München. Erhard's Vorträge über die ersten drei der genann¬ ten Gegenstände sind, als schulgerechte Behandlung derselben, sogar trefflich zu nennen; allein eben der Umstand, daß sich bezeichneter Professor bei seinen Vorträgen genau an sein gedrucktes Handbuch hält, stört die Form des freien, wissenschaftlichen Vortrags und läßt den Zuhörer kaum über die am Gymnasium gewohnte, an das Buch gewurzelt?, durch den Buchstaben vermittelte Erfassung des Gedan¬ kens hinauskommen und zu der unmittelbaren, durch das lebendige Wort gegebenen, freien Anschauung sich erheben. Erhard mag dabei 10-i-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/79>, abgerufen am 27.07.2024.