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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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über das junge Deutschland schimpft. Mit den Vorträgen über Ge¬
schichte ging es bisher nicht besser. Das Jahr 1789 war das Ge¬
spenst, das unsere Professoren stutzen machte, über das hinaus sie ihre
Schritte nicht zu lenken vermochten. Dem ist nicht mehr so. Der
Geist der Zeit, der durchaus eine Vermittlung des Wissens mit dem
Leben will, hat auch an unsere Thore gepocht, und sie wurden ihm,
freilich erst nach einigem Zögern, geöffnet. Ja, man hat es einsehen
gelernt, daß neben dem alten Rom und Griechenland das junge Frank¬
reich, das neue Deutschland auch einige Beachtung verdiene. So hat
denn Professor Neumann vielseitigen Wünschen nachgegeben und vor
einigen Wochen seine Vorlesungen eröffnet. Und wahrlich, Neumann
hat ganz das Zeug dazu; mit einer liberalen Gesinnung und einer
Fülle von Kenntnissen verbindet er ein tiefes Urtheil und eine klare,
praktische Darstellungsgabe. -- Auch der alte Minirer Görres wühlt
noch fleißig in den dunklen Gängen der Mystik, und mehr als vier¬
hundert Hörer aus allen Ständen drängen sich zu seinen Vorträ¬
gen. --

An unserem Museum, dem Versammlungsorte der hiesigen ge¬
lehrten und noblen Welt, werden im Laufe der Wintersaison von
mehreren Mitgliedern über verschiedene Gegenstände des Wissens po¬
puläre Vortrage gehalten; den Reigen eröffnete bereits Dr. Schmid,
Verfasser der Dramen Camoens und Brctislav, mit einem Vortrage
über "die Frauencharaktere Schiller's und Göthe's" und nächstens wird
Hofrath Thiersch über den innern Bau des antiken Theaters spre¬
chen. --

Man spricht hier allenthalben von dem Uebertritte eines katho¬
lischen Geistlichen K... zur protestantischen Kirche, die Wahrheit dieses
on dit mag ich nicht verbürgen, da auch unsere Tagesliteratur über
diesen Vorfall ein tiefes Stillschweigen beobachtet, wahrend sie es sonst
nicht unterläßt, den Uebertritt eines Protestanten oder Juden zur ka¬
tholischen Kirche mit großem Geräusch zu verkünden. Ueberhaupt ist
dieses Uebertreten von einer Kirche zur andern jetzt sehr an der Tages¬
ordnung, und ich muß in dieser Beziehung eines eigenthümlichen Falles
erwähnen. Vergangene Woche nämlich erblickte man öfter auf unsern
Straßen einen Mann, dessen äußere Erscheinung allerdings geeignet
war, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen. Es war
ein junger Mann, dem bei seinem polnischen Talare und seinem lan¬
gen vollen Barte zum polnischen Juden weiter Nichts mehr fehlte, als
die orientalische Physiognomie. Es war der ehemalige Seilermeister
Neunzig aus Memel, der zu Jerusalem zum Judenthum überging
und jetzt den Namen Jacob Emmanuel führt. Er läßt an Frömmigkeit
und Eifer die orthodoxesten heutigen Juden weit hinter sich. Es dürfte
für den Psychologen keine unwürdige Aufgabe sein, den Stufengang


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über das junge Deutschland schimpft. Mit den Vorträgen über Ge¬
schichte ging es bisher nicht besser. Das Jahr 1789 war das Ge¬
spenst, das unsere Professoren stutzen machte, über das hinaus sie ihre
Schritte nicht zu lenken vermochten. Dem ist nicht mehr so. Der
Geist der Zeit, der durchaus eine Vermittlung des Wissens mit dem
Leben will, hat auch an unsere Thore gepocht, und sie wurden ihm,
freilich erst nach einigem Zögern, geöffnet. Ja, man hat es einsehen
gelernt, daß neben dem alten Rom und Griechenland das junge Frank¬
reich, das neue Deutschland auch einige Beachtung verdiene. So hat
denn Professor Neumann vielseitigen Wünschen nachgegeben und vor
einigen Wochen seine Vorlesungen eröffnet. Und wahrlich, Neumann
hat ganz das Zeug dazu; mit einer liberalen Gesinnung und einer
Fülle von Kenntnissen verbindet er ein tiefes Urtheil und eine klare,
praktische Darstellungsgabe. — Auch der alte Minirer Görres wühlt
noch fleißig in den dunklen Gängen der Mystik, und mehr als vier¬
hundert Hörer aus allen Ständen drängen sich zu seinen Vorträ¬
gen. —

An unserem Museum, dem Versammlungsorte der hiesigen ge¬
lehrten und noblen Welt, werden im Laufe der Wintersaison von
mehreren Mitgliedern über verschiedene Gegenstände des Wissens po¬
puläre Vortrage gehalten; den Reigen eröffnete bereits Dr. Schmid,
Verfasser der Dramen Camoens und Brctislav, mit einem Vortrage
über „die Frauencharaktere Schiller's und Göthe's" und nächstens wird
Hofrath Thiersch über den innern Bau des antiken Theaters spre¬
chen. —

Man spricht hier allenthalben von dem Uebertritte eines katho¬
lischen Geistlichen K... zur protestantischen Kirche, die Wahrheit dieses
on dit mag ich nicht verbürgen, da auch unsere Tagesliteratur über
diesen Vorfall ein tiefes Stillschweigen beobachtet, wahrend sie es sonst
nicht unterläßt, den Uebertritt eines Protestanten oder Juden zur ka¬
tholischen Kirche mit großem Geräusch zu verkünden. Ueberhaupt ist
dieses Uebertreten von einer Kirche zur andern jetzt sehr an der Tages¬
ordnung, und ich muß in dieser Beziehung eines eigenthümlichen Falles
erwähnen. Vergangene Woche nämlich erblickte man öfter auf unsern
Straßen einen Mann, dessen äußere Erscheinung allerdings geeignet
war, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen. Es war
ein junger Mann, dem bei seinem polnischen Talare und seinem lan¬
gen vollen Barte zum polnischen Juden weiter Nichts mehr fehlte, als
die orientalische Physiognomie. Es war der ehemalige Seilermeister
Neunzig aus Memel, der zu Jerusalem zum Judenthum überging
und jetzt den Namen Jacob Emmanuel führt. Er läßt an Frömmigkeit
und Eifer die orthodoxesten heutigen Juden weit hinter sich. Es dürfte
für den Psychologen keine unwürdige Aufgabe sein, den Stufengang


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[0613] über das junge Deutschland schimpft. Mit den Vorträgen über Ge¬ schichte ging es bisher nicht besser. Das Jahr 1789 war das Ge¬ spenst, das unsere Professoren stutzen machte, über das hinaus sie ihre Schritte nicht zu lenken vermochten. Dem ist nicht mehr so. Der Geist der Zeit, der durchaus eine Vermittlung des Wissens mit dem Leben will, hat auch an unsere Thore gepocht, und sie wurden ihm, freilich erst nach einigem Zögern, geöffnet. Ja, man hat es einsehen gelernt, daß neben dem alten Rom und Griechenland das junge Frank¬ reich, das neue Deutschland auch einige Beachtung verdiene. So hat denn Professor Neumann vielseitigen Wünschen nachgegeben und vor einigen Wochen seine Vorlesungen eröffnet. Und wahrlich, Neumann hat ganz das Zeug dazu; mit einer liberalen Gesinnung und einer Fülle von Kenntnissen verbindet er ein tiefes Urtheil und eine klare, praktische Darstellungsgabe. — Auch der alte Minirer Görres wühlt noch fleißig in den dunklen Gängen der Mystik, und mehr als vier¬ hundert Hörer aus allen Ständen drängen sich zu seinen Vorträ¬ gen. — An unserem Museum, dem Versammlungsorte der hiesigen ge¬ lehrten und noblen Welt, werden im Laufe der Wintersaison von mehreren Mitgliedern über verschiedene Gegenstände des Wissens po¬ puläre Vortrage gehalten; den Reigen eröffnete bereits Dr. Schmid, Verfasser der Dramen Camoens und Brctislav, mit einem Vortrage über „die Frauencharaktere Schiller's und Göthe's" und nächstens wird Hofrath Thiersch über den innern Bau des antiken Theaters spre¬ chen. — Man spricht hier allenthalben von dem Uebertritte eines katho¬ lischen Geistlichen K... zur protestantischen Kirche, die Wahrheit dieses on dit mag ich nicht verbürgen, da auch unsere Tagesliteratur über diesen Vorfall ein tiefes Stillschweigen beobachtet, wahrend sie es sonst nicht unterläßt, den Uebertritt eines Protestanten oder Juden zur ka¬ tholischen Kirche mit großem Geräusch zu verkünden. Ueberhaupt ist dieses Uebertreten von einer Kirche zur andern jetzt sehr an der Tages¬ ordnung, und ich muß in dieser Beziehung eines eigenthümlichen Falles erwähnen. Vergangene Woche nämlich erblickte man öfter auf unsern Straßen einen Mann, dessen äußere Erscheinung allerdings geeignet war, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen. Es war ein junger Mann, dem bei seinem polnischen Talare und seinem lan¬ gen vollen Barte zum polnischen Juden weiter Nichts mehr fehlte, als die orientalische Physiognomie. Es war der ehemalige Seilermeister Neunzig aus Memel, der zu Jerusalem zum Judenthum überging und jetzt den Namen Jacob Emmanuel führt. Er läßt an Frömmigkeit und Eifer die orthodoxesten heutigen Juden weit hinter sich. Es dürfte für den Psychologen keine unwürdige Aufgabe sein, den Stufengang ^rcnzl'oder I84i. it. 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/613>, abgerufen am 01.09.2024.