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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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Augenblick fliegen prophetische Funken durch den "schwarzen Rauch
der Schmach," und nicht blos burschikose Jünglinge sind es, son¬
dern gereifte Männer, Bürger von achtungswerther öffentlicher Thä¬
tigkeit, die nach Sibirien wandern für Wagnisse, welche man bei
uns Narrheit schelten würde. Ja! Wären wir doch solcher Narr-
heiten fähig! Russen und Polen sind gegen einander aufrichtig, sie
täuschen sich nicht über den Stand der Dinge. In Deutschland da¬
gegen hat man Polen begraben, obwohl man einst vie lebhaftesten
Sympathien dafür bekannte; es ist abgemacht. Nur ein Radicaler,
denken die "Praktischen", kann noch von Polen träumen und sich
mit dem Glauben schmeicheln, daß ein Volk schwerer sterbe, als eine
Dynastie oder ein Häufchen Bundesbeschlüsse. Dachte man doch in
manchen Dingen etwas radicaler; radical heißt ja zu deutsch: gründ¬
lich. Man scheint aber wirklich nicht daran zu denken, daß die pol¬
nische Frage auch von Deutschland eine Antwort erwarten darf, daß
die beiden ^deutschen Großmächte bei der Vergangenheit und Zukunft
Polens wesentlich betheiligt sind. Sehr bequem, sehr schlau, und doch
sehr unklug ist die Ansicht einer gewissen liberal sein wollenden, stüm¬
perhaft diplomatischen Partei: Wir können uns rein waschen, der
Untergang Polens ist von jetzt an blos Rußlands Schuld, denn wir
benehmen uns milde und schonend an seinem Todtenbett; und es wird
doch gut sein, wenn der Moskowiter dem Verwundeten den Gnaden¬
stoß gibt, dann hat alle Verlegenheit ein Ende; und wir haben nur
zugesehen. Es könnte aber doch sein, daß der Schwerverletzte sich
noch einmal erhebt und Gerechtigkeit verlangt. Wie werdet Ihr Euch
dann aus dem Dilemma zwischen neuer Blutschuld und neuer Ver¬
legenheit ziehen? Wird man so hochherzig, d. h, so redlich sein, die
Schuld der Vorfahren zu bekennen? Wird man so radical, d. h. so
unverkehrt und unverschroben denken, um lieber ganz gut zu machen,
was durch keine Halbheit zu flicken ist? Oder wird man wenigstens
im Bösen gründlich sein, wird man den Muth haben, sich offen mit
Rußland zu verbünden, um den polnischen Brand, der bei der näch¬
sten Unterbrechung des europäischen Friedens ausbricht, zu löschen?
Fünfzig Jahre wird der Friede nicht mehr dauern und in fünfzig Jah¬
ren wird Posen oder Galizien eben so wenig germanisirt, wie das
Ezarthum Polen verrußt sein. Wer die Pläne der Steuermänner
erforschen und fragen könnte: Wohinaus steuert Ihr? Vor¬
ausgesetzt, daß sie es selber wissen. Die jetzige Politik würde
vermuthlich, bei einem dritten russisch-polnischen Aufstand, ihre Trup¬
pen wieder einen Kreis schließen lassen um den Schauplatz der Erecu-
tton; sie ^oc- in peinlicher Spannung zusehen; ihre Menschlichkeit
wurde aber nicht: Gerechtigkeit! nicht: Gnade! rufen, nicht das Ur-
ryeu umstoßen, sie würde sich darauf beschränken, der grausamen Un-


Augenblick fliegen prophetische Funken durch den „schwarzen Rauch
der Schmach," und nicht blos burschikose Jünglinge sind es, son¬
dern gereifte Männer, Bürger von achtungswerther öffentlicher Thä¬
tigkeit, die nach Sibirien wandern für Wagnisse, welche man bei
uns Narrheit schelten würde. Ja! Wären wir doch solcher Narr-
heiten fähig! Russen und Polen sind gegen einander aufrichtig, sie
täuschen sich nicht über den Stand der Dinge. In Deutschland da¬
gegen hat man Polen begraben, obwohl man einst vie lebhaftesten
Sympathien dafür bekannte; es ist abgemacht. Nur ein Radicaler,
denken die „Praktischen", kann noch von Polen träumen und sich
mit dem Glauben schmeicheln, daß ein Volk schwerer sterbe, als eine
Dynastie oder ein Häufchen Bundesbeschlüsse. Dachte man doch in
manchen Dingen etwas radicaler; radical heißt ja zu deutsch: gründ¬
lich. Man scheint aber wirklich nicht daran zu denken, daß die pol¬
nische Frage auch von Deutschland eine Antwort erwarten darf, daß
die beiden ^deutschen Großmächte bei der Vergangenheit und Zukunft
Polens wesentlich betheiligt sind. Sehr bequem, sehr schlau, und doch
sehr unklug ist die Ansicht einer gewissen liberal sein wollenden, stüm¬
perhaft diplomatischen Partei: Wir können uns rein waschen, der
Untergang Polens ist von jetzt an blos Rußlands Schuld, denn wir
benehmen uns milde und schonend an seinem Todtenbett; und es wird
doch gut sein, wenn der Moskowiter dem Verwundeten den Gnaden¬
stoß gibt, dann hat alle Verlegenheit ein Ende; und wir haben nur
zugesehen. Es könnte aber doch sein, daß der Schwerverletzte sich
noch einmal erhebt und Gerechtigkeit verlangt. Wie werdet Ihr Euch
dann aus dem Dilemma zwischen neuer Blutschuld und neuer Ver¬
legenheit ziehen? Wird man so hochherzig, d. h, so redlich sein, die
Schuld der Vorfahren zu bekennen? Wird man so radical, d. h. so
unverkehrt und unverschroben denken, um lieber ganz gut zu machen,
was durch keine Halbheit zu flicken ist? Oder wird man wenigstens
im Bösen gründlich sein, wird man den Muth haben, sich offen mit
Rußland zu verbünden, um den polnischen Brand, der bei der näch¬
sten Unterbrechung des europäischen Friedens ausbricht, zu löschen?
Fünfzig Jahre wird der Friede nicht mehr dauern und in fünfzig Jah¬
ren wird Posen oder Galizien eben so wenig germanisirt, wie das
Ezarthum Polen verrußt sein. Wer die Pläne der Steuermänner
erforschen und fragen könnte: Wohinaus steuert Ihr? Vor¬
ausgesetzt, daß sie es selber wissen. Die jetzige Politik würde
vermuthlich, bei einem dritten russisch-polnischen Aufstand, ihre Trup¬
pen wieder einen Kreis schließen lassen um den Schauplatz der Erecu-
tton; sie ^oc- in peinlicher Spannung zusehen; ihre Menschlichkeit
wurde aber nicht: Gerechtigkeit! nicht: Gnade! rufen, nicht das Ur-
ryeu umstoßen, sie würde sich darauf beschränken, der grausamen Un-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/523>, abgerufen am 01.09.2024.