Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

langte die wachsende Körperkraft zu üben, den Strom zu durchschnei¬
den mit seinen Armen, die Gipfel der Bäume zu erklimmen, und
auszutoben in tüchtiger Uebung den Drang nach Bewegung, den er
in sich fühlte. Davon aber wollte der Maestro Nichts wissen. Die
kleinste Verletzung eines Fingers, die kein Anderer beachtet hätte,
wurde für Giovanni gefürchtet, weil sie ihn abhalten konnte, sich
hören zu lassen, und der Maestro betrachtete ihn wie ein Capital,
das er ängstlich hütete, um damit zu wuchern. Auch die ernsteren
Studien, die Giovanni machen wollte und so oft er nur Anleitung
fand, wirklich machte, waren dem Maestro nicht lieb. Sie hielten
Giovanni von den Klavierübungen zurück und entwickelten den Ver¬
stand auf Kosten der Phantasie, die der Maestro mit zu den Eigen¬
schaften zählte, aus denen er den größten Vortheil zog. Geschickt
wandte er deshalb Alles an, diese gefährliche Göttergabe zu nähren
und zu erhalten und nur zu bald hatte er, durch seine Erzählun¬
gen, die Sinne des Knaben erregt und die Unschuld seines Gei¬
stes zerstört.

Je länger dieses Treiben dauerte, je mehr Giovanni heran¬
wuchs, je qualvoller schien ihm das Leben, das er führen mußte.
Er war es müde, von jedem Neugierigen die Wunderlyra auf sei¬
ner Brust betrachten zu lassen; er erinnerte sich deutlich des Abends,
an dem man ihn von seiner Mutter fortgerissen, er glaubte zu wissen,
daß man ihm damals die Lyra auf die Brust geätzt, denn er erinnerte
sich, daß er sie einst als etwas Fremdes an sich betrachtet hatte.
Aber von seiner Mutter sollte er nicht sprechen, und schweigen mußte
er zu dem Betrug, den der Maestro mit der angeborenen Kunst¬
weise der Kinder verübte. Er liebte die Kunst; doch die Weise, in
der er sie ausüben mußte, war ihm verhaßt. Kaum sechszehn
Jahre alt, hatte er halb Europa durchreist und kannte doch Nichts
von der Welt, als die Zimmer einiger Kunstliebhaber, die Conzert-
säle und die Theater, in denen er gespielt.

Oft sehnte er sich in das Leben hinaus und in die kältere Hei¬
math, wenn sein junges Blut wild durch die Adern zu rollen begann
und der Maestro ihn an die kleine Cornelia erinnerte, die ihn einst
in ihre Arme geschlossen. Wie eine HimmelserHeinung hatte sie
damals in sein Leben geleuchtet und die erste unverstandene Liebes¬
ahnung in der poetischen Seele des jungen Künstlers geweckt. Zu


langte die wachsende Körperkraft zu üben, den Strom zu durchschnei¬
den mit seinen Armen, die Gipfel der Bäume zu erklimmen, und
auszutoben in tüchtiger Uebung den Drang nach Bewegung, den er
in sich fühlte. Davon aber wollte der Maestro Nichts wissen. Die
kleinste Verletzung eines Fingers, die kein Anderer beachtet hätte,
wurde für Giovanni gefürchtet, weil sie ihn abhalten konnte, sich
hören zu lassen, und der Maestro betrachtete ihn wie ein Capital,
das er ängstlich hütete, um damit zu wuchern. Auch die ernsteren
Studien, die Giovanni machen wollte und so oft er nur Anleitung
fand, wirklich machte, waren dem Maestro nicht lieb. Sie hielten
Giovanni von den Klavierübungen zurück und entwickelten den Ver¬
stand auf Kosten der Phantasie, die der Maestro mit zu den Eigen¬
schaften zählte, aus denen er den größten Vortheil zog. Geschickt
wandte er deshalb Alles an, diese gefährliche Göttergabe zu nähren
und zu erhalten und nur zu bald hatte er, durch seine Erzählun¬
gen, die Sinne des Knaben erregt und die Unschuld seines Gei¬
stes zerstört.

Je länger dieses Treiben dauerte, je mehr Giovanni heran¬
wuchs, je qualvoller schien ihm das Leben, das er führen mußte.
Er war es müde, von jedem Neugierigen die Wunderlyra auf sei¬
ner Brust betrachten zu lassen; er erinnerte sich deutlich des Abends,
an dem man ihn von seiner Mutter fortgerissen, er glaubte zu wissen,
daß man ihm damals die Lyra auf die Brust geätzt, denn er erinnerte
sich, daß er sie einst als etwas Fremdes an sich betrachtet hatte.
Aber von seiner Mutter sollte er nicht sprechen, und schweigen mußte
er zu dem Betrug, den der Maestro mit der angeborenen Kunst¬
weise der Kinder verübte. Er liebte die Kunst; doch die Weise, in
der er sie ausüben mußte, war ihm verhaßt. Kaum sechszehn
Jahre alt, hatte er halb Europa durchreist und kannte doch Nichts
von der Welt, als die Zimmer einiger Kunstliebhaber, die Conzert-
säle und die Theater, in denen er gespielt.

Oft sehnte er sich in das Leben hinaus und in die kältere Hei¬
math, wenn sein junges Blut wild durch die Adern zu rollen begann
und der Maestro ihn an die kleine Cornelia erinnerte, die ihn einst
in ihre Arme geschlossen. Wie eine HimmelserHeinung hatte sie
damals in sein Leben geleuchtet und die erste unverstandene Liebes¬
ahnung in der poetischen Seele des jungen Künstlers geweckt. Zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0465" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/181649"/>
            <p xml:id="ID_1306" prev="#ID_1305"> langte die wachsende Körperkraft zu üben, den Strom zu durchschnei¬<lb/>
den mit seinen Armen, die Gipfel der Bäume zu erklimmen, und<lb/>
auszutoben in tüchtiger Uebung den Drang nach Bewegung, den er<lb/>
in sich fühlte. Davon aber wollte der Maestro Nichts wissen. Die<lb/>
kleinste Verletzung eines Fingers, die kein Anderer beachtet hätte,<lb/>
wurde für Giovanni gefürchtet, weil sie ihn abhalten konnte, sich<lb/>
hören zu lassen, und der Maestro betrachtete ihn wie ein Capital,<lb/>
das er ängstlich hütete, um damit zu wuchern. Auch die ernsteren<lb/>
Studien, die Giovanni machen wollte und so oft er nur Anleitung<lb/>
fand, wirklich machte, waren dem Maestro nicht lieb. Sie hielten<lb/>
Giovanni von den Klavierübungen zurück und entwickelten den Ver¬<lb/>
stand auf Kosten der Phantasie, die der Maestro mit zu den Eigen¬<lb/>
schaften zählte, aus denen er den größten Vortheil zog. Geschickt<lb/>
wandte er deshalb Alles an, diese gefährliche Göttergabe zu nähren<lb/>
und zu erhalten und nur zu bald hatte er, durch seine Erzählun¬<lb/>
gen, die Sinne des Knaben erregt und die Unschuld seines Gei¬<lb/>
stes zerstört.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1307"> Je länger dieses Treiben dauerte, je mehr Giovanni heran¬<lb/>
wuchs, je qualvoller schien ihm das Leben, das er führen mußte.<lb/>
Er war es müde, von jedem Neugierigen die Wunderlyra auf sei¬<lb/>
ner Brust betrachten zu lassen; er erinnerte sich deutlich des Abends,<lb/>
an dem man ihn von seiner Mutter fortgerissen, er glaubte zu wissen,<lb/>
daß man ihm damals die Lyra auf die Brust geätzt, denn er erinnerte<lb/>
sich, daß er sie einst als etwas Fremdes an sich betrachtet hatte.<lb/>
Aber von seiner Mutter sollte er nicht sprechen, und schweigen mußte<lb/>
er zu dem Betrug, den der Maestro mit der angeborenen Kunst¬<lb/>
weise der Kinder verübte. Er liebte die Kunst; doch die Weise, in<lb/>
der er sie ausüben mußte, war ihm verhaßt. Kaum sechszehn<lb/>
Jahre alt, hatte er halb Europa durchreist und kannte doch Nichts<lb/>
von der Welt, als die Zimmer einiger Kunstliebhaber, die Conzert-<lb/>
säle und die Theater, in denen er gespielt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1308" next="#ID_1309"> Oft sehnte er sich in das Leben hinaus und in die kältere Hei¬<lb/>
math, wenn sein junges Blut wild durch die Adern zu rollen begann<lb/>
und der Maestro ihn an die kleine Cornelia erinnerte, die ihn einst<lb/>
in ihre Arme geschlossen. Wie eine HimmelserHeinung hatte sie<lb/>
damals in sein Leben geleuchtet und die erste unverstandene Liebes¬<lb/>
ahnung in der poetischen Seele des jungen Künstlers geweckt. Zu</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0465] langte die wachsende Körperkraft zu üben, den Strom zu durchschnei¬ den mit seinen Armen, die Gipfel der Bäume zu erklimmen, und auszutoben in tüchtiger Uebung den Drang nach Bewegung, den er in sich fühlte. Davon aber wollte der Maestro Nichts wissen. Die kleinste Verletzung eines Fingers, die kein Anderer beachtet hätte, wurde für Giovanni gefürchtet, weil sie ihn abhalten konnte, sich hören zu lassen, und der Maestro betrachtete ihn wie ein Capital, das er ängstlich hütete, um damit zu wuchern. Auch die ernsteren Studien, die Giovanni machen wollte und so oft er nur Anleitung fand, wirklich machte, waren dem Maestro nicht lieb. Sie hielten Giovanni von den Klavierübungen zurück und entwickelten den Ver¬ stand auf Kosten der Phantasie, die der Maestro mit zu den Eigen¬ schaften zählte, aus denen er den größten Vortheil zog. Geschickt wandte er deshalb Alles an, diese gefährliche Göttergabe zu nähren und zu erhalten und nur zu bald hatte er, durch seine Erzählun¬ gen, die Sinne des Knaben erregt und die Unschuld seines Gei¬ stes zerstört. Je länger dieses Treiben dauerte, je mehr Giovanni heran¬ wuchs, je qualvoller schien ihm das Leben, das er führen mußte. Er war es müde, von jedem Neugierigen die Wunderlyra auf sei¬ ner Brust betrachten zu lassen; er erinnerte sich deutlich des Abends, an dem man ihn von seiner Mutter fortgerissen, er glaubte zu wissen, daß man ihm damals die Lyra auf die Brust geätzt, denn er erinnerte sich, daß er sie einst als etwas Fremdes an sich betrachtet hatte. Aber von seiner Mutter sollte er nicht sprechen, und schweigen mußte er zu dem Betrug, den der Maestro mit der angeborenen Kunst¬ weise der Kinder verübte. Er liebte die Kunst; doch die Weise, in der er sie ausüben mußte, war ihm verhaßt. Kaum sechszehn Jahre alt, hatte er halb Europa durchreist und kannte doch Nichts von der Welt, als die Zimmer einiger Kunstliebhaber, die Conzert- säle und die Theater, in denen er gespielt. Oft sehnte er sich in das Leben hinaus und in die kältere Hei¬ math, wenn sein junges Blut wild durch die Adern zu rollen begann und der Maestro ihn an die kleine Cornelia erinnerte, die ihn einst in ihre Arme geschlossen. Wie eine HimmelserHeinung hatte sie damals in sein Leben geleuchtet und die erste unverstandene Liebes¬ ahnung in der poetischen Seele des jungen Künstlers geweckt. Zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/465
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/465>, abgerufen am 28.07.2024.