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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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Literarische Blätter.



>.
Eine Dichterin aus Oesterreich.

Die Zeit dürstet mich schöpferischen Quellen, nach Geistern, die
da gestalten und die Wirklichkeit verklären. Aber der Grundton un¬
serer Periode ist immer noch Lyrik oder -- die Lyrik des Denkens --
Reflectionz er bebt nicht blos im Liede, mehr oder minder mächtig
klingt er auch noch durch die epische oder dramatische Dichtung fort.
Denn wie uns im wirklichen Leben jetzt die hilfreich bauenden Engel
fehlen, so auch in der Dichtung; verschmähen wir darum jene Ta¬
lente nicht, die uns die allgemeine Ohnmacht fortsingen und die
Volker anspornen möchten zu dem, was sie selbst nicht vermögen, zur
That, zur Schöpfung. Das Publicum bewundert vor Allen solche
Dichter, welche die Welt erfassen, wenn auch nicht bewältigen; deren
ganze Kraft im Andrängen und Stürmen gegen den stumpfen Wi¬
derstand der politischen Wirklichkeit aufgeht. Die Kritik soll auch
auf die einsamem Poeten hinweisen, die nicht den Beruf haben, das
Volk anzureden, die aber doch in ihren individuellen Kämpfen die
Stimmung der Zeit abspiegeln. -- Man finde es daher nicht be¬
fremdend, wenn wir neben die flüchtigen Silhouetten Heine's
und Freiligrath's^) das Bild eines Poeten ;u stellen wagen, der weder
die Farbenpracht des Löwen- und Wüstensängers, noch den verwe¬
genen Witz des deutsch-pariser Dichters hat. Es ist noch dazu ein
Frauenkopf, aber mit edlen, scharf geprägten Zügen; der Schmerz
hat hier seine leisen, tiefen Spuren gezogen, doch es ist keine ge¬
wöhnliche Leidensschrift; es war keiner von den gemeinen Schmerzen,
die ewig persönlich bleiben und ihr Opfer verlassen, nachdem sie es
verunschönt haben; auch keiner von jenen Schmerzen, die man sich,
mit wenig Herz und etwas Rhythmus, so leicht anvhantasirt; der hat



Siehe voriges Heft der Grenzboren.
Literarische Blätter.



>.
Eine Dichterin aus Oesterreich.

Die Zeit dürstet mich schöpferischen Quellen, nach Geistern, die
da gestalten und die Wirklichkeit verklären. Aber der Grundton un¬
serer Periode ist immer noch Lyrik oder — die Lyrik des Denkens —
Reflectionz er bebt nicht blos im Liede, mehr oder minder mächtig
klingt er auch noch durch die epische oder dramatische Dichtung fort.
Denn wie uns im wirklichen Leben jetzt die hilfreich bauenden Engel
fehlen, so auch in der Dichtung; verschmähen wir darum jene Ta¬
lente nicht, die uns die allgemeine Ohnmacht fortsingen und die
Volker anspornen möchten zu dem, was sie selbst nicht vermögen, zur
That, zur Schöpfung. Das Publicum bewundert vor Allen solche
Dichter, welche die Welt erfassen, wenn auch nicht bewältigen; deren
ganze Kraft im Andrängen und Stürmen gegen den stumpfen Wi¬
derstand der politischen Wirklichkeit aufgeht. Die Kritik soll auch
auf die einsamem Poeten hinweisen, die nicht den Beruf haben, das
Volk anzureden, die aber doch in ihren individuellen Kämpfen die
Stimmung der Zeit abspiegeln. — Man finde es daher nicht be¬
fremdend, wenn wir neben die flüchtigen Silhouetten Heine's
und Freiligrath's^) das Bild eines Poeten ;u stellen wagen, der weder
die Farbenpracht des Löwen- und Wüstensängers, noch den verwe¬
genen Witz des deutsch-pariser Dichters hat. Es ist noch dazu ein
Frauenkopf, aber mit edlen, scharf geprägten Zügen; der Schmerz
hat hier seine leisen, tiefen Spuren gezogen, doch es ist keine ge¬
wöhnliche Leidensschrift; es war keiner von den gemeinen Schmerzen,
die ewig persönlich bleiben und ihr Opfer verlassen, nachdem sie es
verunschönt haben; auch keiner von jenen Schmerzen, die man sich,
mit wenig Herz und etwas Rhythmus, so leicht anvhantasirt; der hat



Siehe voriges Heft der Grenzboren.
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[0224] Literarische Blätter. >. Eine Dichterin aus Oesterreich. Die Zeit dürstet mich schöpferischen Quellen, nach Geistern, die da gestalten und die Wirklichkeit verklären. Aber der Grundton un¬ serer Periode ist immer noch Lyrik oder — die Lyrik des Denkens — Reflectionz er bebt nicht blos im Liede, mehr oder minder mächtig klingt er auch noch durch die epische oder dramatische Dichtung fort. Denn wie uns im wirklichen Leben jetzt die hilfreich bauenden Engel fehlen, so auch in der Dichtung; verschmähen wir darum jene Ta¬ lente nicht, die uns die allgemeine Ohnmacht fortsingen und die Volker anspornen möchten zu dem, was sie selbst nicht vermögen, zur That, zur Schöpfung. Das Publicum bewundert vor Allen solche Dichter, welche die Welt erfassen, wenn auch nicht bewältigen; deren ganze Kraft im Andrängen und Stürmen gegen den stumpfen Wi¬ derstand der politischen Wirklichkeit aufgeht. Die Kritik soll auch auf die einsamem Poeten hinweisen, die nicht den Beruf haben, das Volk anzureden, die aber doch in ihren individuellen Kämpfen die Stimmung der Zeit abspiegeln. — Man finde es daher nicht be¬ fremdend, wenn wir neben die flüchtigen Silhouetten Heine's und Freiligrath's^) das Bild eines Poeten ;u stellen wagen, der weder die Farbenpracht des Löwen- und Wüstensängers, noch den verwe¬ genen Witz des deutsch-pariser Dichters hat. Es ist noch dazu ein Frauenkopf, aber mit edlen, scharf geprägten Zügen; der Schmerz hat hier seine leisen, tiefen Spuren gezogen, doch es ist keine ge¬ wöhnliche Leidensschrift; es war keiner von den gemeinen Schmerzen, die ewig persönlich bleiben und ihr Opfer verlassen, nachdem sie es verunschönt haben; auch keiner von jenen Schmerzen, die man sich, mit wenig Herz und etwas Rhythmus, so leicht anvhantasirt; der hat Siehe voriges Heft der Grenzboren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/224>, abgerufen am 27.07.2024.