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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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von sehr wichtigen Entdeckungen und Einrichtungen, vielleicht gar,
aber das ist fast unerhört, ein paar Angaben über einige Gebrauche
und Trachten werden neben einander gestellt, durcheinandergewürfelt.

Noch kein deutscher Geschichtschreiber führte es aus, daß jedes
Zeitalter, jedes Geschlecht eine bestimmte geistige Grundstimmung und
eine gewisse Lebensgewohnheit bat, aus der das Charakteristische
der meisten Erscheinungen und Bestrebungen entspringt; daß Kriege
und Constitutionenwechsel, Dichtwerke und Kirchenbeschlüsse nur Sei¬
ten des allgemeinen Lebens und nicht die Hauptsache darstellen; daß
der Sinn mit der Sitte aufs innigste zusammenhängt und wie da¬
durch das eigenthümliche Gepräge einer jeden Staatsform und Re¬
gierungsweise bedingt wird. Doch vergißt der Unterzeichnete, daß er
nicht seine Meinungen auskramen will.

Schlosser zieht nun das Schriftwesen dergestalt in den Kreis
der Geschichte, daß er es mit den politischen Verhältnissen verbindet,
indem er den Einfluß nachweist, den die Literatur auf den Staat
ausübte. Bei dieser Betrachtungsart hat ein großes politisches Er-
eigniß sehr oft zwei Factoren. Erstlich die ihm vorangehenden poli¬
tischen Begebenheiten, aus denen man es allein herzuleiten nach
dem alten Schlage gewohnt ist, und zweitens die Einwirkung von
Büchern oder Lehren. Bei diesem Gesichtspunkte werden die Schrif¬
ten weniger nach ihrem inneren Werthe als vielmehr nach ihrer Wir¬
kung ausgewählt uno betrachtet, ihr Inhalt kann' nicht vollständig
mitgetheilt, sondern aus ihrem Inhalte nur dasjenige herausgezogen
werden, was grade zündete. Wer darauf bei der Lesung des Schlosser-
schen Werkes nicht achtete, der würde mit Ungrund Manches tadeln.
Nicht immer stimmt daher das Bild, das man sich von einer Schrift
gemacht hat, mit der Auffassung, die man bei Schlosser findet. Doch
darf dies nicht irren. Folgerecht wird bei einem Gedichte die ästhe¬
tische Vollendung außer Acht gelassen und nur auf die Neuheit der
Gedanken oder den Eindruck, den es machte, die Aufmerksamkeit
hingelenkt. Daß dies ein Mangel ist, sieht man, aber dieser Man¬
gel ist doch im Vergleich zu der bisherigen Art der Geschichtsbehand¬
lung ein außerordentlicher Fortschritt. Wir bekommen dadurch
eine neue Art der Literaturbetrachtung. Nach dem schriftstellerischen
Verdienst, nach der Klassicität wird nicht geurtheilt, sondern nach
dem Einflüsse eines Schriftstellers auf seine Zeitgenossen. Nur ge-


von sehr wichtigen Entdeckungen und Einrichtungen, vielleicht gar,
aber das ist fast unerhört, ein paar Angaben über einige Gebrauche
und Trachten werden neben einander gestellt, durcheinandergewürfelt.

Noch kein deutscher Geschichtschreiber führte es aus, daß jedes
Zeitalter, jedes Geschlecht eine bestimmte geistige Grundstimmung und
eine gewisse Lebensgewohnheit bat, aus der das Charakteristische
der meisten Erscheinungen und Bestrebungen entspringt; daß Kriege
und Constitutionenwechsel, Dichtwerke und Kirchenbeschlüsse nur Sei¬
ten des allgemeinen Lebens und nicht die Hauptsache darstellen; daß
der Sinn mit der Sitte aufs innigste zusammenhängt und wie da¬
durch das eigenthümliche Gepräge einer jeden Staatsform und Re¬
gierungsweise bedingt wird. Doch vergißt der Unterzeichnete, daß er
nicht seine Meinungen auskramen will.

Schlosser zieht nun das Schriftwesen dergestalt in den Kreis
der Geschichte, daß er es mit den politischen Verhältnissen verbindet,
indem er den Einfluß nachweist, den die Literatur auf den Staat
ausübte. Bei dieser Betrachtungsart hat ein großes politisches Er-
eigniß sehr oft zwei Factoren. Erstlich die ihm vorangehenden poli¬
tischen Begebenheiten, aus denen man es allein herzuleiten nach
dem alten Schlage gewohnt ist, und zweitens die Einwirkung von
Büchern oder Lehren. Bei diesem Gesichtspunkte werden die Schrif¬
ten weniger nach ihrem inneren Werthe als vielmehr nach ihrer Wir¬
kung ausgewählt uno betrachtet, ihr Inhalt kann' nicht vollständig
mitgetheilt, sondern aus ihrem Inhalte nur dasjenige herausgezogen
werden, was grade zündete. Wer darauf bei der Lesung des Schlosser-
schen Werkes nicht achtete, der würde mit Ungrund Manches tadeln.
Nicht immer stimmt daher das Bild, das man sich von einer Schrift
gemacht hat, mit der Auffassung, die man bei Schlosser findet. Doch
darf dies nicht irren. Folgerecht wird bei einem Gedichte die ästhe¬
tische Vollendung außer Acht gelassen und nur auf die Neuheit der
Gedanken oder den Eindruck, den es machte, die Aufmerksamkeit
hingelenkt. Daß dies ein Mangel ist, sieht man, aber dieser Man¬
gel ist doch im Vergleich zu der bisherigen Art der Geschichtsbehand¬
lung ein außerordentlicher Fortschritt. Wir bekommen dadurch
eine neue Art der Literaturbetrachtung. Nach dem schriftstellerischen
Verdienst, nach der Klassicität wird nicht geurtheilt, sondern nach
dem Einflüsse eines Schriftstellers auf seine Zeitgenossen. Nur ge-


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[0206] von sehr wichtigen Entdeckungen und Einrichtungen, vielleicht gar, aber das ist fast unerhört, ein paar Angaben über einige Gebrauche und Trachten werden neben einander gestellt, durcheinandergewürfelt. Noch kein deutscher Geschichtschreiber führte es aus, daß jedes Zeitalter, jedes Geschlecht eine bestimmte geistige Grundstimmung und eine gewisse Lebensgewohnheit bat, aus der das Charakteristische der meisten Erscheinungen und Bestrebungen entspringt; daß Kriege und Constitutionenwechsel, Dichtwerke und Kirchenbeschlüsse nur Sei¬ ten des allgemeinen Lebens und nicht die Hauptsache darstellen; daß der Sinn mit der Sitte aufs innigste zusammenhängt und wie da¬ durch das eigenthümliche Gepräge einer jeden Staatsform und Re¬ gierungsweise bedingt wird. Doch vergißt der Unterzeichnete, daß er nicht seine Meinungen auskramen will. Schlosser zieht nun das Schriftwesen dergestalt in den Kreis der Geschichte, daß er es mit den politischen Verhältnissen verbindet, indem er den Einfluß nachweist, den die Literatur auf den Staat ausübte. Bei dieser Betrachtungsart hat ein großes politisches Er- eigniß sehr oft zwei Factoren. Erstlich die ihm vorangehenden poli¬ tischen Begebenheiten, aus denen man es allein herzuleiten nach dem alten Schlage gewohnt ist, und zweitens die Einwirkung von Büchern oder Lehren. Bei diesem Gesichtspunkte werden die Schrif¬ ten weniger nach ihrem inneren Werthe als vielmehr nach ihrer Wir¬ kung ausgewählt uno betrachtet, ihr Inhalt kann' nicht vollständig mitgetheilt, sondern aus ihrem Inhalte nur dasjenige herausgezogen werden, was grade zündete. Wer darauf bei der Lesung des Schlosser- schen Werkes nicht achtete, der würde mit Ungrund Manches tadeln. Nicht immer stimmt daher das Bild, das man sich von einer Schrift gemacht hat, mit der Auffassung, die man bei Schlosser findet. Doch darf dies nicht irren. Folgerecht wird bei einem Gedichte die ästhe¬ tische Vollendung außer Acht gelassen und nur auf die Neuheit der Gedanken oder den Eindruck, den es machte, die Aufmerksamkeit hingelenkt. Daß dies ein Mangel ist, sieht man, aber dieser Man¬ gel ist doch im Vergleich zu der bisherigen Art der Geschichtsbehand¬ lung ein außerordentlicher Fortschritt. Wir bekommen dadurch eine neue Art der Literaturbetrachtung. Nach dem schriftstellerischen Verdienst, nach der Klassicität wird nicht geurtheilt, sondern nach dem Einflüsse eines Schriftstellers auf seine Zeitgenossen. Nur ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/206>, abgerufen am 01.09.2024.