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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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eine geistlose Aufführung von vielen Thatsachen, aus welchen der
Leser weder einen Ueberblick des Entwickelungsgangs, noch Nahrung
für sein Herz gewinnen kann. Nur die selbständige Ausarbeitung der
Geschichte vom streng conservativen Standpunkte aus, welche der
Consistorialrath Karl Adolph Menzel in Breslau dazu schrieb, hat
noch einigen Werth. Sonst möchte ich die erste Originalausgabe
Becker's der neuen Bearbeitung vorziehen. Indeß das Buch wurde
von allen Seiten empfohlen und erlangte eine außerordentliche Ver¬
breitung in Norddeutschland.

Als die Franzosen 1)"s Vaterland überzogen hatten und alle ed¬
len Deutschen voll Unwillen gegen die Unterdrückung waren, in die¬
sen Tagen der Aufregung schrieb der Freiburger Professor Karl von
Rotteck seine allgemeine Geschichte (1812). Er hatte sie rasch ent¬
worfen, denn er wollte auf die Zeit wirken. Das muß man loben,
aber man muß tadeln, daß er sie nicht später umschuf, als er Zeit
dazu hatte. Lange nicht so gut ausgestattet mit Vorstudien wie Bek-
ker, suchte Rotteck durch seine Sprache zu fesseln. Die Gluth der
Phantasie, mit der er oft malt, die Wärme seiner Rede, die er stets
gegen das Unrecht kehrt, mußte ihm alle empfänglichen Leser gewin¬
nen. Becker suchte einen naiven Ton, Rotteck gefiel sich in rhetori¬
schen Wendungen. Gute Bücher gehen in Deutschland bekanntlich
schwer. Rotteck's allgemeine Geschichte wollte anfangs keine Käufer
finden, bis der verzweifelnde Verleger Handelsreisende mit ihr in alle
Welt schickte Darnach konnte er so viele Auflagen drucken, als er
Reisende ausgesendet hatte. Jetzt, nach des Verfassers Tode, ist die
neue Bearbeitung in stereotypen gesetzt. Die Vertheidiger des Al¬
ten klagen gar sehr über die weile Verbreitung dieser Geschichte des
liberalen, edlen Rotteck, aber trotz ihrer Oberflächlichkeit ist sie der
jetzigen Becker'schen vorzuziehen, denn diese tödtet den Geist, Rotteck's
Begeisterung aber regt an. Wer durch Becker, Woltmann, Löbell,
Duncker, Menzel sich durchgearbeitet hat, wird wahrlich kein großes
Verlangen tragen, ein anderes Geschichtswerk zu lesen.

Beide Werke entsprechen indeß dem gegenwärtigen Standpunkte
der Geschichtswissenschaft durchaus nicht. Es wird daher wirklich
einem gefühlten Bedürfniß durch die Herausgabe einer allgemeinen
Geschichte genügt, welche in Frankfurt am Main bei PH- Krebs
unter dem etwas unpassenden Titel- "F. C. Schlosser'S Welt-


eine geistlose Aufführung von vielen Thatsachen, aus welchen der
Leser weder einen Ueberblick des Entwickelungsgangs, noch Nahrung
für sein Herz gewinnen kann. Nur die selbständige Ausarbeitung der
Geschichte vom streng conservativen Standpunkte aus, welche der
Consistorialrath Karl Adolph Menzel in Breslau dazu schrieb, hat
noch einigen Werth. Sonst möchte ich die erste Originalausgabe
Becker's der neuen Bearbeitung vorziehen. Indeß das Buch wurde
von allen Seiten empfohlen und erlangte eine außerordentliche Ver¬
breitung in Norddeutschland.

Als die Franzosen 1)«s Vaterland überzogen hatten und alle ed¬
len Deutschen voll Unwillen gegen die Unterdrückung waren, in die¬
sen Tagen der Aufregung schrieb der Freiburger Professor Karl von
Rotteck seine allgemeine Geschichte (1812). Er hatte sie rasch ent¬
worfen, denn er wollte auf die Zeit wirken. Das muß man loben,
aber man muß tadeln, daß er sie nicht später umschuf, als er Zeit
dazu hatte. Lange nicht so gut ausgestattet mit Vorstudien wie Bek-
ker, suchte Rotteck durch seine Sprache zu fesseln. Die Gluth der
Phantasie, mit der er oft malt, die Wärme seiner Rede, die er stets
gegen das Unrecht kehrt, mußte ihm alle empfänglichen Leser gewin¬
nen. Becker suchte einen naiven Ton, Rotteck gefiel sich in rhetori¬
schen Wendungen. Gute Bücher gehen in Deutschland bekanntlich
schwer. Rotteck's allgemeine Geschichte wollte anfangs keine Käufer
finden, bis der verzweifelnde Verleger Handelsreisende mit ihr in alle
Welt schickte Darnach konnte er so viele Auflagen drucken, als er
Reisende ausgesendet hatte. Jetzt, nach des Verfassers Tode, ist die
neue Bearbeitung in stereotypen gesetzt. Die Vertheidiger des Al¬
ten klagen gar sehr über die weile Verbreitung dieser Geschichte des
liberalen, edlen Rotteck, aber trotz ihrer Oberflächlichkeit ist sie der
jetzigen Becker'schen vorzuziehen, denn diese tödtet den Geist, Rotteck's
Begeisterung aber regt an. Wer durch Becker, Woltmann, Löbell,
Duncker, Menzel sich durchgearbeitet hat, wird wahrlich kein großes
Verlangen tragen, ein anderes Geschichtswerk zu lesen.

Beide Werke entsprechen indeß dem gegenwärtigen Standpunkte
der Geschichtswissenschaft durchaus nicht. Es wird daher wirklich
einem gefühlten Bedürfniß durch die Herausgabe einer allgemeinen
Geschichte genügt, welche in Frankfurt am Main bei PH- Krebs
unter dem etwas unpassenden Titel- „F. C. Schlosser'S Welt-


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[0198] eine geistlose Aufführung von vielen Thatsachen, aus welchen der Leser weder einen Ueberblick des Entwickelungsgangs, noch Nahrung für sein Herz gewinnen kann. Nur die selbständige Ausarbeitung der Geschichte vom streng conservativen Standpunkte aus, welche der Consistorialrath Karl Adolph Menzel in Breslau dazu schrieb, hat noch einigen Werth. Sonst möchte ich die erste Originalausgabe Becker's der neuen Bearbeitung vorziehen. Indeß das Buch wurde von allen Seiten empfohlen und erlangte eine außerordentliche Ver¬ breitung in Norddeutschland. Als die Franzosen 1)«s Vaterland überzogen hatten und alle ed¬ len Deutschen voll Unwillen gegen die Unterdrückung waren, in die¬ sen Tagen der Aufregung schrieb der Freiburger Professor Karl von Rotteck seine allgemeine Geschichte (1812). Er hatte sie rasch ent¬ worfen, denn er wollte auf die Zeit wirken. Das muß man loben, aber man muß tadeln, daß er sie nicht später umschuf, als er Zeit dazu hatte. Lange nicht so gut ausgestattet mit Vorstudien wie Bek- ker, suchte Rotteck durch seine Sprache zu fesseln. Die Gluth der Phantasie, mit der er oft malt, die Wärme seiner Rede, die er stets gegen das Unrecht kehrt, mußte ihm alle empfänglichen Leser gewin¬ nen. Becker suchte einen naiven Ton, Rotteck gefiel sich in rhetori¬ schen Wendungen. Gute Bücher gehen in Deutschland bekanntlich schwer. Rotteck's allgemeine Geschichte wollte anfangs keine Käufer finden, bis der verzweifelnde Verleger Handelsreisende mit ihr in alle Welt schickte Darnach konnte er so viele Auflagen drucken, als er Reisende ausgesendet hatte. Jetzt, nach des Verfassers Tode, ist die neue Bearbeitung in stereotypen gesetzt. Die Vertheidiger des Al¬ ten klagen gar sehr über die weile Verbreitung dieser Geschichte des liberalen, edlen Rotteck, aber trotz ihrer Oberflächlichkeit ist sie der jetzigen Becker'schen vorzuziehen, denn diese tödtet den Geist, Rotteck's Begeisterung aber regt an. Wer durch Becker, Woltmann, Löbell, Duncker, Menzel sich durchgearbeitet hat, wird wahrlich kein großes Verlangen tragen, ein anderes Geschichtswerk zu lesen. Beide Werke entsprechen indeß dem gegenwärtigen Standpunkte der Geschichtswissenschaft durchaus nicht. Es wird daher wirklich einem gefühlten Bedürfniß durch die Herausgabe einer allgemeinen Geschichte genügt, welche in Frankfurt am Main bei PH- Krebs unter dem etwas unpassenden Titel- „F. C. Schlosser'S Welt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/198>, abgerufen am 01.09.2024.