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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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so sichrer war, als sein Genius mit dem deutschen Wesen auf glei¬
chem Grunde ruht. Aber befreite er Geist und Herz von tausend
ästhetischen und moralischen Vorurtheilen, bereicherte, vertiefte und
veredelte er unendlich den Gehalt der Poesie überhaupt und der dra¬
matischen besonders, so war er doch nicht vermögend, der letzteren
eine bestimmte und giltige Form zu geben. Man hat freilich die
seinige adoptirt, so gut es eben ging, mit mehr oder weniger Ge¬
schick, aber man kam darüber zu keiner rechten Selbständigkeit, son¬
dern es blieb in formaler Hinsicht bei der Nachahmung, die nicht
selten eine geistlose und sklavische war. Viele haben deshalb dem
Shakspeare selbst zu Leibe gewollt, als dessen Einfluß formzerstörend
aus unser Drama gewirkt. Die Frage, ob Shakspeare's Werke als
rohe Ausbrüche einer genialen Natur oder als durchgebildete, nach
wahrhaften Kunstformen gestaltete Werke zu betrachten seien, ist seit
Lessing bis auf unsre Zeit vielfältig erörtert. Göthe und Schiller
haben sich darüber etwas unbestimmt ausgesprochen, letzterer will
wenigstens, nach seiner Einleitung zur Braut von Messtna, den Chor
in Shakspeare's Dramen vermissen. Die Romantiker legten dagegen
dem Briten entschieden die Kunstform und zwar die tiefste und um¬
fassendste bei; in neuester Zeit scheint man daran zu zweifeln. Wie
wir aber darüber urtheilen mögen, so ist es ungerecht zu behaupten,
Shakspeare habe in dieser Hinsicht geschadet. Denn zu schaden gab
es Nichts. Was wir von Dramenform vor seiner Herüberkunft hat¬
ten, war eine elende Nachäffung der französischen Typen, die selbst
nicht organisch, sondern bloße Abstraktionen waren. Daß dieses
Fachwerk vor ihm fiel, was ist da zu bedauern! Vielmehr sollten
wir ihm auch dafür danken. Eine nationale Form zu schaffen, das
war unsere Sache, nicht seine. Wir müssen sogar gestehen, daß er
uns, auch in dieser Hinsicht, mindestens die Wege gebahnt. Viele
seiner Eigenthümlichkeiten, die auch unser ältestes Drama besessen,
dürsten wir getrost aufnehmen; wir nehmen damit nur ein altes
Eigenthum zurück. Dahin gehört z. B. sein freies Spiel mit Raum
und Zeit. Man adoptirte aber nicht minder seine Scenensührung,
die weitläuftige Anlage seiner Komposition, die Kühnheit, mit der er
nicht selten verschiedene Fäden zu einem anscheinend losen Gewebe
verschlingt; man bemächtigte sich seines Verses, schrieb wohl auch,
wie er, abwechselnd in Prosa und Versen; man copirte seinen Styl,


so sichrer war, als sein Genius mit dem deutschen Wesen auf glei¬
chem Grunde ruht. Aber befreite er Geist und Herz von tausend
ästhetischen und moralischen Vorurtheilen, bereicherte, vertiefte und
veredelte er unendlich den Gehalt der Poesie überhaupt und der dra¬
matischen besonders, so war er doch nicht vermögend, der letzteren
eine bestimmte und giltige Form zu geben. Man hat freilich die
seinige adoptirt, so gut es eben ging, mit mehr oder weniger Ge¬
schick, aber man kam darüber zu keiner rechten Selbständigkeit, son¬
dern es blieb in formaler Hinsicht bei der Nachahmung, die nicht
selten eine geistlose und sklavische war. Viele haben deshalb dem
Shakspeare selbst zu Leibe gewollt, als dessen Einfluß formzerstörend
aus unser Drama gewirkt. Die Frage, ob Shakspeare's Werke als
rohe Ausbrüche einer genialen Natur oder als durchgebildete, nach
wahrhaften Kunstformen gestaltete Werke zu betrachten seien, ist seit
Lessing bis auf unsre Zeit vielfältig erörtert. Göthe und Schiller
haben sich darüber etwas unbestimmt ausgesprochen, letzterer will
wenigstens, nach seiner Einleitung zur Braut von Messtna, den Chor
in Shakspeare's Dramen vermissen. Die Romantiker legten dagegen
dem Briten entschieden die Kunstform und zwar die tiefste und um¬
fassendste bei; in neuester Zeit scheint man daran zu zweifeln. Wie
wir aber darüber urtheilen mögen, so ist es ungerecht zu behaupten,
Shakspeare habe in dieser Hinsicht geschadet. Denn zu schaden gab
es Nichts. Was wir von Dramenform vor seiner Herüberkunft hat¬
ten, war eine elende Nachäffung der französischen Typen, die selbst
nicht organisch, sondern bloße Abstraktionen waren. Daß dieses
Fachwerk vor ihm fiel, was ist da zu bedauern! Vielmehr sollten
wir ihm auch dafür danken. Eine nationale Form zu schaffen, das
war unsere Sache, nicht seine. Wir müssen sogar gestehen, daß er
uns, auch in dieser Hinsicht, mindestens die Wege gebahnt. Viele
seiner Eigenthümlichkeiten, die auch unser ältestes Drama besessen,
dürsten wir getrost aufnehmen; wir nehmen damit nur ein altes
Eigenthum zurück. Dahin gehört z. B. sein freies Spiel mit Raum
und Zeit. Man adoptirte aber nicht minder seine Scenensührung,
die weitläuftige Anlage seiner Komposition, die Kühnheit, mit der er
nicht selten verschiedene Fäden zu einem anscheinend losen Gewebe
verschlingt; man bemächtigte sich seines Verses, schrieb wohl auch,
wie er, abwechselnd in Prosa und Versen; man copirte seinen Styl,


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[0017] so sichrer war, als sein Genius mit dem deutschen Wesen auf glei¬ chem Grunde ruht. Aber befreite er Geist und Herz von tausend ästhetischen und moralischen Vorurtheilen, bereicherte, vertiefte und veredelte er unendlich den Gehalt der Poesie überhaupt und der dra¬ matischen besonders, so war er doch nicht vermögend, der letzteren eine bestimmte und giltige Form zu geben. Man hat freilich die seinige adoptirt, so gut es eben ging, mit mehr oder weniger Ge¬ schick, aber man kam darüber zu keiner rechten Selbständigkeit, son¬ dern es blieb in formaler Hinsicht bei der Nachahmung, die nicht selten eine geistlose und sklavische war. Viele haben deshalb dem Shakspeare selbst zu Leibe gewollt, als dessen Einfluß formzerstörend aus unser Drama gewirkt. Die Frage, ob Shakspeare's Werke als rohe Ausbrüche einer genialen Natur oder als durchgebildete, nach wahrhaften Kunstformen gestaltete Werke zu betrachten seien, ist seit Lessing bis auf unsre Zeit vielfältig erörtert. Göthe und Schiller haben sich darüber etwas unbestimmt ausgesprochen, letzterer will wenigstens, nach seiner Einleitung zur Braut von Messtna, den Chor in Shakspeare's Dramen vermissen. Die Romantiker legten dagegen dem Briten entschieden die Kunstform und zwar die tiefste und um¬ fassendste bei; in neuester Zeit scheint man daran zu zweifeln. Wie wir aber darüber urtheilen mögen, so ist es ungerecht zu behaupten, Shakspeare habe in dieser Hinsicht geschadet. Denn zu schaden gab es Nichts. Was wir von Dramenform vor seiner Herüberkunft hat¬ ten, war eine elende Nachäffung der französischen Typen, die selbst nicht organisch, sondern bloße Abstraktionen waren. Daß dieses Fachwerk vor ihm fiel, was ist da zu bedauern! Vielmehr sollten wir ihm auch dafür danken. Eine nationale Form zu schaffen, das war unsere Sache, nicht seine. Wir müssen sogar gestehen, daß er uns, auch in dieser Hinsicht, mindestens die Wege gebahnt. Viele seiner Eigenthümlichkeiten, die auch unser ältestes Drama besessen, dürsten wir getrost aufnehmen; wir nehmen damit nur ein altes Eigenthum zurück. Dahin gehört z. B. sein freies Spiel mit Raum und Zeit. Man adoptirte aber nicht minder seine Scenensührung, die weitläuftige Anlage seiner Komposition, die Kühnheit, mit der er nicht selten verschiedene Fäden zu einem anscheinend losen Gewebe verschlingt; man bemächtigte sich seines Verses, schrieb wohl auch, wie er, abwechselnd in Prosa und Versen; man copirte seinen Styl,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/17>, abgerufen am 01.09.2024.