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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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Ohnehin ist es hier nicht so leicht, als in Leipzig, selbst wider
Willen in den Strudel literarischer Bekanntschaft gerissen und von
ihm verschlungen zu werden, da man hier überhaupt weniger zugäng¬
lich ist. Auch betreiben die Münchner Autoren ihr schriftstellerisches
Geschäft meist nur nebenbei aus Liebhaberei und Neigung, so daß
von einem zunftmäßigen Interesse gar nicht die Rede sein kann. In
Leipzig pflegt ein ankommender Literat gewöhnlich zuvörderst die
Redacteure der dortigen Journale, wie alle diejenigen zu besuchen
welche überhaupt kritisch thätig sind. Dieser Mühwaltung ist man
hier überhoben, da die hiesigen Journale: "der bäuerische Landbote",
"die baierische Landbötin", "der baierische Eilbote", "das Münchner
Tageblatt", "der baierische Volksfreund" u. s. w. bekanntlich nur ein
locales Interesse haben und von vornherein auf eine literarische und
kritische Bedeutung Verzicht leisten. Das Bedeutungsvollste, was
auf daS innerste Leben der Gegenwart und auf die fernere Gestal¬
tung der Zukunft Bezug hat, geschieht hier bekanntlich auf dem Ge¬
biete der kirchlichen Polemik. Darüber wissen Sie in Leipzig durch
Broschüren und Journale vielleicht ziemlich eben so viel, als ich hier
in München, da die hiesige so behutsame allgemeine Conversation zu
dieser theologischen Prozeßsache nur wenig Ergänzungen liefert. Oder
soll ich Ihnen zum Ueberfluß den sprachgewaltigen Görres nennen,
dem selbst sein entschiedenster Gegner Genialität, sogar eine gewisse
Großartigkeit nicht abläugnen wird? Oder Thiersch, welcher von
München aus für den Protestantismus ficht? Oder seinen katholischen
Gegner, den geistlichen Rath und Professor der Theologie, Döllin-
ger? Oder Phillips, den Mitherausgeber der "historisch-politischen
Blätter"? Vielleicht mögen Sie im Norden noch durch einzelne Fabeln
und Sagen erschreckt werden, womit die Phantasie die reine histori¬
sche Wahrheit betriebsam auszuschmücken liebt. Die Zukunft wirv
auf diese, wie auf so viele in der Gegenwart angeregte Fragen die
Antwort nicht schuldig bleiben; denn die Weltgeschichte, die klügste
Schiedsmännin und Friedensrichterin, hat noch keine bedeutsame Frage
lib liet-t gelegt, wenn schon häufig, alle menschliche Berechnung durch
einen Meisterstreich zu nichte machend, sie in ganz anderer Weise ge¬
löst, als die gegentheiligen Prozeßführer glauben konnten. Wir in
unserer Hast fordern allerdings eine schnelle Entscheidung in wenigen
Jahren, während die Weltgeschichte Hunderte von Jahren dazu ver-


Ohnehin ist es hier nicht so leicht, als in Leipzig, selbst wider
Willen in den Strudel literarischer Bekanntschaft gerissen und von
ihm verschlungen zu werden, da man hier überhaupt weniger zugäng¬
lich ist. Auch betreiben die Münchner Autoren ihr schriftstellerisches
Geschäft meist nur nebenbei aus Liebhaberei und Neigung, so daß
von einem zunftmäßigen Interesse gar nicht die Rede sein kann. In
Leipzig pflegt ein ankommender Literat gewöhnlich zuvörderst die
Redacteure der dortigen Journale, wie alle diejenigen zu besuchen
welche überhaupt kritisch thätig sind. Dieser Mühwaltung ist man
hier überhoben, da die hiesigen Journale: „der bäuerische Landbote",
„die baierische Landbötin", „der baierische Eilbote", „das Münchner
Tageblatt", „der baierische Volksfreund" u. s. w. bekanntlich nur ein
locales Interesse haben und von vornherein auf eine literarische und
kritische Bedeutung Verzicht leisten. Das Bedeutungsvollste, was
auf daS innerste Leben der Gegenwart und auf die fernere Gestal¬
tung der Zukunft Bezug hat, geschieht hier bekanntlich auf dem Ge¬
biete der kirchlichen Polemik. Darüber wissen Sie in Leipzig durch
Broschüren und Journale vielleicht ziemlich eben so viel, als ich hier
in München, da die hiesige so behutsame allgemeine Conversation zu
dieser theologischen Prozeßsache nur wenig Ergänzungen liefert. Oder
soll ich Ihnen zum Ueberfluß den sprachgewaltigen Görres nennen,
dem selbst sein entschiedenster Gegner Genialität, sogar eine gewisse
Großartigkeit nicht abläugnen wird? Oder Thiersch, welcher von
München aus für den Protestantismus ficht? Oder seinen katholischen
Gegner, den geistlichen Rath und Professor der Theologie, Döllin-
ger? Oder Phillips, den Mitherausgeber der „historisch-politischen
Blätter"? Vielleicht mögen Sie im Norden noch durch einzelne Fabeln
und Sagen erschreckt werden, womit die Phantasie die reine histori¬
sche Wahrheit betriebsam auszuschmücken liebt. Die Zukunft wirv
auf diese, wie auf so viele in der Gegenwart angeregte Fragen die
Antwort nicht schuldig bleiben; denn die Weltgeschichte, die klügste
Schiedsmännin und Friedensrichterin, hat noch keine bedeutsame Frage
lib liet-t gelegt, wenn schon häufig, alle menschliche Berechnung durch
einen Meisterstreich zu nichte machend, sie in ganz anderer Weise ge¬
löst, als die gegentheiligen Prozeßführer glauben konnten. Wir in
unserer Hast fordern allerdings eine schnelle Entscheidung in wenigen
Jahren, während die Weltgeschichte Hunderte von Jahren dazu ver-


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[0552] Ohnehin ist es hier nicht so leicht, als in Leipzig, selbst wider Willen in den Strudel literarischer Bekanntschaft gerissen und von ihm verschlungen zu werden, da man hier überhaupt weniger zugäng¬ lich ist. Auch betreiben die Münchner Autoren ihr schriftstellerisches Geschäft meist nur nebenbei aus Liebhaberei und Neigung, so daß von einem zunftmäßigen Interesse gar nicht die Rede sein kann. In Leipzig pflegt ein ankommender Literat gewöhnlich zuvörderst die Redacteure der dortigen Journale, wie alle diejenigen zu besuchen welche überhaupt kritisch thätig sind. Dieser Mühwaltung ist man hier überhoben, da die hiesigen Journale: „der bäuerische Landbote", „die baierische Landbötin", „der baierische Eilbote", „das Münchner Tageblatt", „der baierische Volksfreund" u. s. w. bekanntlich nur ein locales Interesse haben und von vornherein auf eine literarische und kritische Bedeutung Verzicht leisten. Das Bedeutungsvollste, was auf daS innerste Leben der Gegenwart und auf die fernere Gestal¬ tung der Zukunft Bezug hat, geschieht hier bekanntlich auf dem Ge¬ biete der kirchlichen Polemik. Darüber wissen Sie in Leipzig durch Broschüren und Journale vielleicht ziemlich eben so viel, als ich hier in München, da die hiesige so behutsame allgemeine Conversation zu dieser theologischen Prozeßsache nur wenig Ergänzungen liefert. Oder soll ich Ihnen zum Ueberfluß den sprachgewaltigen Görres nennen, dem selbst sein entschiedenster Gegner Genialität, sogar eine gewisse Großartigkeit nicht abläugnen wird? Oder Thiersch, welcher von München aus für den Protestantismus ficht? Oder seinen katholischen Gegner, den geistlichen Rath und Professor der Theologie, Döllin- ger? Oder Phillips, den Mitherausgeber der „historisch-politischen Blätter"? Vielleicht mögen Sie im Norden noch durch einzelne Fabeln und Sagen erschreckt werden, womit die Phantasie die reine histori¬ sche Wahrheit betriebsam auszuschmücken liebt. Die Zukunft wirv auf diese, wie auf so viele in der Gegenwart angeregte Fragen die Antwort nicht schuldig bleiben; denn die Weltgeschichte, die klügste Schiedsmännin und Friedensrichterin, hat noch keine bedeutsame Frage lib liet-t gelegt, wenn schon häufig, alle menschliche Berechnung durch einen Meisterstreich zu nichte machend, sie in ganz anderer Weise ge¬ löst, als die gegentheiligen Prozeßführer glauben konnten. Wir in unserer Hast fordern allerdings eine schnelle Entscheidung in wenigen Jahren, während die Weltgeschichte Hunderte von Jahren dazu ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/552>, abgerufen am 23.12.2024.