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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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in dem Etwas lag, was man in seinem Leben nicht wieder vergißt,
in meiner Nähe Preißelsbeeren sammelte. Eben erweckte mich daS
Geräusch, das sie machte, als plötzlich zwei Hände mir die Augen
zuhielten, und eine klare Stimme fragte: Wer ist's? Ich "ces
richtig auf meine Schwester. Diese setzte sich min neben mich, denn
sie war auch müde geworden und meinte: ich hätte nun lange ge¬
nug gesessen und möchte nun wieder pflücken, dieweil sie ruhe. Ich
aber sagte: Ach, es ist doch gar zu schön hier, und die Geschichte
unseres Urururgroßvaters, der da unten sein Himmelreich gefunden
hat, will mir gar nicht aus dem Sinne. Wollen wir lieber die
Kinder rufen und uns Geschichten erzählen, denn Beeren können
nur noch alle Tage genug lesen!

-- Ihr hört wohl auch Märchen gern? begann die Alte, die
uns nun ganz nahe gekommen war.

-- O vom ganzen Leben gern! rief ich, mir ist Nichts lieber
als das!

-- Ja, so war mein Traugott auch, ehe er in die Welt ging!
sprach sie schmerzlich bewegt. Wenn ich ihm ein Märchen erzählte,
so ließ er Essen und Trinken stehen, und was ich ihm erzählte, das
malte er gleich, und so deutlich, als ob er es selber mit angesehen
hätte. Da kam einmal ein fremder Maler in unsern Ort, der sah
ein Bild, das mein Traugott mit Farben gemalt hatte, wie der junge
Bauer aus Freiberg auf einmal in Venedig aufwacht und sich über
alle die Herrlichkeit wundert, die er überall sieht, und da setzte er
mir zu, daß ich meinen Sohn mit ihm nach München gehen lassen
mußte, weil er Maler werden sollte. Ich hatte Nichts, wovon ich
meinen Sohn ein Handwerk lernen lassen konnte, und so willigte
ich schweren Herzens ein. Da schrieb er mir öfters Briefe, und sein
Lehrherr lobte ihn sehr und meinte, mein Traugott würde ein be¬
rühmter Mann werden. Aber da kam Anno fünfzehn der gottlose
Napoleon wieder nach Frankreich, und die Deutschen marschirten hin,
um ihn wieder zu verjagen. Da zog mein Traugott auch einen
Soldatenrock an und schrieb mir einen schönen Brief. Es war der
letzte, denn in Frankreich ist er geblieben.

Die Alte fing an zu weinen, wir hörten teilnehmend zu; als
sie sich aber ein wenig beruhigt hatte, fragte ich: Was war das
für eine Geschichte, die Euer Traugott gemalt hat?


in dem Etwas lag, was man in seinem Leben nicht wieder vergißt,
in meiner Nähe Preißelsbeeren sammelte. Eben erweckte mich daS
Geräusch, das sie machte, als plötzlich zwei Hände mir die Augen
zuhielten, und eine klare Stimme fragte: Wer ist's? Ich «ces
richtig auf meine Schwester. Diese setzte sich min neben mich, denn
sie war auch müde geworden und meinte: ich hätte nun lange ge¬
nug gesessen und möchte nun wieder pflücken, dieweil sie ruhe. Ich
aber sagte: Ach, es ist doch gar zu schön hier, und die Geschichte
unseres Urururgroßvaters, der da unten sein Himmelreich gefunden
hat, will mir gar nicht aus dem Sinne. Wollen wir lieber die
Kinder rufen und uns Geschichten erzählen, denn Beeren können
nur noch alle Tage genug lesen!

— Ihr hört wohl auch Märchen gern? begann die Alte, die
uns nun ganz nahe gekommen war.

— O vom ganzen Leben gern! rief ich, mir ist Nichts lieber
als das!

— Ja, so war mein Traugott auch, ehe er in die Welt ging!
sprach sie schmerzlich bewegt. Wenn ich ihm ein Märchen erzählte,
so ließ er Essen und Trinken stehen, und was ich ihm erzählte, das
malte er gleich, und so deutlich, als ob er es selber mit angesehen
hätte. Da kam einmal ein fremder Maler in unsern Ort, der sah
ein Bild, das mein Traugott mit Farben gemalt hatte, wie der junge
Bauer aus Freiberg auf einmal in Venedig aufwacht und sich über
alle die Herrlichkeit wundert, die er überall sieht, und da setzte er
mir zu, daß ich meinen Sohn mit ihm nach München gehen lassen
mußte, weil er Maler werden sollte. Ich hatte Nichts, wovon ich
meinen Sohn ein Handwerk lernen lassen konnte, und so willigte
ich schweren Herzens ein. Da schrieb er mir öfters Briefe, und sein
Lehrherr lobte ihn sehr und meinte, mein Traugott würde ein be¬
rühmter Mann werden. Aber da kam Anno fünfzehn der gottlose
Napoleon wieder nach Frankreich, und die Deutschen marschirten hin,
um ihn wieder zu verjagen. Da zog mein Traugott auch einen
Soldatenrock an und schrieb mir einen schönen Brief. Es war der
letzte, denn in Frankreich ist er geblieben.

Die Alte fing an zu weinen, wir hörten teilnehmend zu; als
sie sich aber ein wenig beruhigt hatte, fragte ich: Was war das
für eine Geschichte, die Euer Traugott gemalt hat?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/535>, abgerufen am 23.07.2024.