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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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Postocommandantin hat mir gestern anvertraut, daß sie noch mehr
als zwei Eimer von dem guten Wein hat. -- Er ist ein Esel, ver¬
setzte mein Herr, wer redet denn vom Wein? -- Nach einer kurzen
Pause sagte er jedoch, mich begütigend: Er hat Recht, es ist
ein Kapitalwein, und er kann wohl auf eine gescheidte Art der Frau
beibringen, daß ich gerne davon ein halbes Eimerchen nach Hause
mitbrachte -- es versteht sich jedoch, gegen Bezahlung, sonst nehme
ich durchaus keinen an.

Wir waren von dem vielen Nichtsthun, welchem wir seit unse¬
rer Postobereisung unsere ganze Zeit widmeten, so abgemattet, daß
wir einige Tage ausruhen mußten. Während dieser Ruhezeit war
ich hauptsächlich beflissen/ die höher gestellten Person n. welche sich
bei diesem Garnisonsposten befanden, kennen zu lernen. Ich kann
nicht genug rühmen, mit welcher Zuvorkommenheit mir die Frau
Pvstocommandantin in diesem Geschäfte an die Hand ging. Sie
war von Natur äußerst redselig, und es schien fast, daß sie ihre Re¬
den auswendig zu lernen pflegte, denn sie sprudelte dieselben mit
einer solchen Zungengelenkigkeit heraus, als wenn sie mittelst einer
Dampfsprachmaschine herausgetrieben worden wären. Nebst dieser
Kunstfertigkeit im Sprechen besaß sie eine so ausgebreitete Menschen¬
kenntniß, daß sie im strengen Sinn des Wortes die Nieren prüfen
konnte und in dem Herzen des Nächsten mit einer solchen Meister¬
schaft zu lesen verstand, daß ihrem Späherauge nicht die geheimste
Schwäche unbemerkt entgehen konnte. Bei ihr war eS nicht Schmäh¬
sucht, wenn sie die Fehler der Mitmenschen aufdecken mußte, es war
nur eine verzeihliche Herzensgüte, die sie zu Zeiten übermannte, wenn
sie Jemand vor gewissen Personen warnen wollte. Uebrigens konnte
man durchaus nicht sagen, daß sie bei ihren Charakterschilderungen
tadelnd auftrat, -- nein! sie erzählte nur Facta und enthielt sich je¬
der moralischen Nutzanwendung. Sie überließ es dem Urtheile der
Zuhörenden, welchen moralischen Werth derselbe ihren geschilderten
Personen beilegen wollte, und ihr Wahlspruch war, wenn sie derglei¬
chen von Jemand erwähnen mußte: Mein Gott, wir sind ja Alle
fehlerhaft.

Diese ausgezeichnete Frau, welche der geflügelten Jugend die
Vortheilhasteste ^Erziehung zu geben und den eingefechsten Trauben
den herrlichsten Saft zu erpressen wußte, stand in der Reife ihrer


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Postocommandantin hat mir gestern anvertraut, daß sie noch mehr
als zwei Eimer von dem guten Wein hat. — Er ist ein Esel, ver¬
setzte mein Herr, wer redet denn vom Wein? — Nach einer kurzen
Pause sagte er jedoch, mich begütigend: Er hat Recht, es ist
ein Kapitalwein, und er kann wohl auf eine gescheidte Art der Frau
beibringen, daß ich gerne davon ein halbes Eimerchen nach Hause
mitbrachte — es versteht sich jedoch, gegen Bezahlung, sonst nehme
ich durchaus keinen an.

Wir waren von dem vielen Nichtsthun, welchem wir seit unse¬
rer Postobereisung unsere ganze Zeit widmeten, so abgemattet, daß
wir einige Tage ausruhen mußten. Während dieser Ruhezeit war
ich hauptsächlich beflissen/ die höher gestellten Person n. welche sich
bei diesem Garnisonsposten befanden, kennen zu lernen. Ich kann
nicht genug rühmen, mit welcher Zuvorkommenheit mir die Frau
Pvstocommandantin in diesem Geschäfte an die Hand ging. Sie
war von Natur äußerst redselig, und es schien fast, daß sie ihre Re¬
den auswendig zu lernen pflegte, denn sie sprudelte dieselben mit
einer solchen Zungengelenkigkeit heraus, als wenn sie mittelst einer
Dampfsprachmaschine herausgetrieben worden wären. Nebst dieser
Kunstfertigkeit im Sprechen besaß sie eine so ausgebreitete Menschen¬
kenntniß, daß sie im strengen Sinn des Wortes die Nieren prüfen
konnte und in dem Herzen des Nächsten mit einer solchen Meister¬
schaft zu lesen verstand, daß ihrem Späherauge nicht die geheimste
Schwäche unbemerkt entgehen konnte. Bei ihr war eS nicht Schmäh¬
sucht, wenn sie die Fehler der Mitmenschen aufdecken mußte, es war
nur eine verzeihliche Herzensgüte, die sie zu Zeiten übermannte, wenn
sie Jemand vor gewissen Personen warnen wollte. Uebrigens konnte
man durchaus nicht sagen, daß sie bei ihren Charakterschilderungen
tadelnd auftrat, — nein! sie erzählte nur Facta und enthielt sich je¬
der moralischen Nutzanwendung. Sie überließ es dem Urtheile der
Zuhörenden, welchen moralischen Werth derselbe ihren geschilderten
Personen beilegen wollte, und ihr Wahlspruch war, wenn sie derglei¬
chen von Jemand erwähnen mußte: Mein Gott, wir sind ja Alle
fehlerhaft.

Diese ausgezeichnete Frau, welche der geflügelten Jugend die
Vortheilhasteste ^Erziehung zu geben und den eingefechsten Trauben
den herrlichsten Saft zu erpressen wußte, stand in der Reife ihrer


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[0507] Postocommandantin hat mir gestern anvertraut, daß sie noch mehr als zwei Eimer von dem guten Wein hat. — Er ist ein Esel, ver¬ setzte mein Herr, wer redet denn vom Wein? — Nach einer kurzen Pause sagte er jedoch, mich begütigend: Er hat Recht, es ist ein Kapitalwein, und er kann wohl auf eine gescheidte Art der Frau beibringen, daß ich gerne davon ein halbes Eimerchen nach Hause mitbrachte — es versteht sich jedoch, gegen Bezahlung, sonst nehme ich durchaus keinen an. Wir waren von dem vielen Nichtsthun, welchem wir seit unse¬ rer Postobereisung unsere ganze Zeit widmeten, so abgemattet, daß wir einige Tage ausruhen mußten. Während dieser Ruhezeit war ich hauptsächlich beflissen/ die höher gestellten Person n. welche sich bei diesem Garnisonsposten befanden, kennen zu lernen. Ich kann nicht genug rühmen, mit welcher Zuvorkommenheit mir die Frau Pvstocommandantin in diesem Geschäfte an die Hand ging. Sie war von Natur äußerst redselig, und es schien fast, daß sie ihre Re¬ den auswendig zu lernen pflegte, denn sie sprudelte dieselben mit einer solchen Zungengelenkigkeit heraus, als wenn sie mittelst einer Dampfsprachmaschine herausgetrieben worden wären. Nebst dieser Kunstfertigkeit im Sprechen besaß sie eine so ausgebreitete Menschen¬ kenntniß, daß sie im strengen Sinn des Wortes die Nieren prüfen konnte und in dem Herzen des Nächsten mit einer solchen Meister¬ schaft zu lesen verstand, daß ihrem Späherauge nicht die geheimste Schwäche unbemerkt entgehen konnte. Bei ihr war eS nicht Schmäh¬ sucht, wenn sie die Fehler der Mitmenschen aufdecken mußte, es war nur eine verzeihliche Herzensgüte, die sie zu Zeiten übermannte, wenn sie Jemand vor gewissen Personen warnen wollte. Uebrigens konnte man durchaus nicht sagen, daß sie bei ihren Charakterschilderungen tadelnd auftrat, — nein! sie erzählte nur Facta und enthielt sich je¬ der moralischen Nutzanwendung. Sie überließ es dem Urtheile der Zuhörenden, welchen moralischen Werth derselbe ihren geschilderten Personen beilegen wollte, und ihr Wahlspruch war, wenn sie derglei¬ chen von Jemand erwähnen mußte: Mein Gott, wir sind ja Alle fehlerhaft. Diese ausgezeichnete Frau, welche der geflügelten Jugend die Vortheilhasteste ^Erziehung zu geben und den eingefechsten Trauben den herrlichsten Saft zu erpressen wußte, stand in der Reife ihrer 63»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/507>, abgerufen am 23.12.2024.