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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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moderne Ideen mit der Luft einathmet. Meint man, daß sdie neue
Zeit sich in ihren eigenen Eingeweiden umkehren könne?

Selbst liebenswürdige und malerische Kleinigkeiten, Aeußerlich-
keiten und Gebräuche fallen dem nivellirenden Geist der modernen
Zeit immer mehr zum Opfer. Jene kleidsamen, mit allerlei Zierwerk,
Münzen u. f. w. behangncn Mieder, wie sie sonst für ein Münch¬
nerisches Bürgermädchen als Staatstracht unerläßlich waren, sind
jetzt fast nur noch Tracht der Kellnerinnen, und selbst der Riegel-
Häubchen, welche kecken und frischen Gesichtern so allerliebst stehen,
fängt man sich an im Mittelstande zu schämen und dem ziemlich ge¬
schmacklosen Gebäude des französischen Hutes die Herrschaft einzu¬
räumen. Der Dialekt nimmt durch den Schulunterricht, den häufigen
Verkehr mit Fremden, den Besuch des Theaters immer mehr hoch¬
deutsche Nüaneirungen an, obschon der Münchner Dialekt, welcher
höchstens im Munde junger und hübscher Mädchen und Frauen an¬
muthig naiv klingt, seine Rauhheiten wohl eben so wenig ganz auf¬
geben wird, als der im Munde von Männern allzuweichlich klin¬
gende meißnisch-sächsische Dialekt sein "Schöne!" oder "ich muß Sie
sagen", oder sein Singen oder seine harte Aussprache deö b und d
und die weiche deS p und t, wodurch freilich die sächsischen Dichter
den schönen Vorzug haben: "Neige" und "Leiche", "Bude" und
"Pute", "Teppichs (nach der vulgären Leipziger Aussprache "Deebich")
und "Geb' ich" zu reimen.

Merkwürdig bleibt es, daß, während auf der Berliner Bühne
in Folge höherer Ansicht "die Räuber" und "Wilhelm Tell" nicht
zur Aufführung kommen durften, (später soll, wie ich höre, auch
"Jsidor und Olga" der russischen gemüthlichen Ansicht von der Leib¬
eigenschaft zum Opfer gebracht worden sein), beide Dichtungen hier
uttverstümmelt aufgeführt wurden. "Nathan der Weise" fand, wie
ich selbst als Augenzeuge berichten kann, zu Eßlair'ö Zeit in Mur-



*) Ich spreche hier vom königl. Nationaltheater, nicht von dem Bolrs-
und Borstadttheatcr in der An, wo es im Münchner Dialekt höchst lustig
und ungezwungen hergeht. Ergötzlich war mir, der Darstellung eines Drama
"der vaierische Hiesel" beizuwohnen, worin dieser abgefeimte Spitzbube ganz
->- 1k Karl Moor nobel und grosimüthig erscheint. Das Publicum drückte auch
seine Sympathien für diesen berüchtigten b-ncrischen Schnapphahn auf's leb¬
hafteste aus, wie sein Bedauern, daß endlich der Uebermacht der Soldaren
doch der Sieg verbleiben und der weltlichen Gerechtigkeit ihr Lauf gelassen
werden mußte.
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moderne Ideen mit der Luft einathmet. Meint man, daß sdie neue
Zeit sich in ihren eigenen Eingeweiden umkehren könne?

Selbst liebenswürdige und malerische Kleinigkeiten, Aeußerlich-
keiten und Gebräuche fallen dem nivellirenden Geist der modernen
Zeit immer mehr zum Opfer. Jene kleidsamen, mit allerlei Zierwerk,
Münzen u. f. w. behangncn Mieder, wie sie sonst für ein Münch¬
nerisches Bürgermädchen als Staatstracht unerläßlich waren, sind
jetzt fast nur noch Tracht der Kellnerinnen, und selbst der Riegel-
Häubchen, welche kecken und frischen Gesichtern so allerliebst stehen,
fängt man sich an im Mittelstande zu schämen und dem ziemlich ge¬
schmacklosen Gebäude des französischen Hutes die Herrschaft einzu¬
räumen. Der Dialekt nimmt durch den Schulunterricht, den häufigen
Verkehr mit Fremden, den Besuch des Theaters immer mehr hoch¬
deutsche Nüaneirungen an, obschon der Münchner Dialekt, welcher
höchstens im Munde junger und hübscher Mädchen und Frauen an¬
muthig naiv klingt, seine Rauhheiten wohl eben so wenig ganz auf¬
geben wird, als der im Munde von Männern allzuweichlich klin¬
gende meißnisch-sächsische Dialekt sein „Schöne!" oder „ich muß Sie
sagen", oder sein Singen oder seine harte Aussprache deö b und d
und die weiche deS p und t, wodurch freilich die sächsischen Dichter
den schönen Vorzug haben: „Neige" und „Leiche", „Bude" und
„Pute", „Teppichs (nach der vulgären Leipziger Aussprache „Deebich")
und „Geb' ich" zu reimen.

Merkwürdig bleibt es, daß, während auf der Berliner Bühne
in Folge höherer Ansicht „die Räuber" und „Wilhelm Tell" nicht
zur Aufführung kommen durften, (später soll, wie ich höre, auch
„Jsidor und Olga" der russischen gemüthlichen Ansicht von der Leib¬
eigenschaft zum Opfer gebracht worden sein), beide Dichtungen hier
uttverstümmelt aufgeführt wurden. „Nathan der Weise" fand, wie
ich selbst als Augenzeuge berichten kann, zu Eßlair'ö Zeit in Mur-



*) Ich spreche hier vom königl. Nationaltheater, nicht von dem Bolrs-
und Borstadttheatcr in der An, wo es im Münchner Dialekt höchst lustig
und ungezwungen hergeht. Ergötzlich war mir, der Darstellung eines Drama
„der vaierische Hiesel" beizuwohnen, worin dieser abgefeimte Spitzbube ganz
->- 1k Karl Moor nobel und grosimüthig erscheint. Das Publicum drückte auch
seine Sympathien für diesen berüchtigten b-ncrischen Schnapphahn auf's leb¬
hafteste aus, wie sein Bedauern, daß endlich der Uebermacht der Soldaren
doch der Sieg verbleiben und der weltlichen Gerechtigkeit ihr Lauf gelassen
werden mußte.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/499>, abgerufen am 23.07.2024.