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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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wird. Ich will hier nicht die Borzüge des deutschen Nordens ver¬
kennen, nicht jene ermunternde, wenn auch häufig flache und flüchtige
Zuvorkommenheit, nicht jene, wenn auch oft erkünstelte, enthusiastische
Theilnahme für öffentliche Interessen und für den Fortschritt der Zeit,
nicht jene große, wenn auch nicht selten fast krampfhafte geistige Regsam¬
keit im Allgemeinen; aber eben so wahr ist es, daß jenes hastige,
lärmhafte, widerspruchsvolle Treiben, wobei die persönliche Eitelkeit
oft im Spiele ist, und die zungenfertige, kecke Mittelmäßigkeit nur zu
oft sich in den Vordergrund zu drängen weiß, betäubend und verwirrend
auf ein der stille" Betrachtung vorzugsweise hingegebenes Gemüth
wirken muß. Wenn das spanische Fliegenpflaster Blasen auf der
Haut gezogen hat, so liebt man wohl, eine lindernde Salbe auf die
schmerzhafte Stelle zu streichen. Auch der Aufenthalt in München
wirkt Krampf und Schmerz stillend. Man empfindet dies, ohne sich
über das Wie und Wodurch Rechenschaft geben zu können. In man¬
cher Hinsicht fehlt es hier allerdings an Stimulation und geistiger
Anregung, aber wahrlich nicht an Leuten, welche an den Fortschritten
und Entwickelungen der Zeit innig Theil nehmen und in der Beur¬
theilung derselben einen vollkommen tüchtigen und gesunden Men¬
schenverstand blicken lassen, obschon sie "veniger als im Norden auf
dem hohen Pferde des selbstbewußten Raisonnements einherzutraben
wissen, um gelegentlich als schlecht geschulte Sonntagöreiter in den
Sand gesetzt zu werden.

Auch die moderne Zeit hat ihre Fabeln und Mythen, und manche
Ansichten über München scheinen mir in diesen mythischen Kreis zu
gehören. Man greift Einzelnheiten, vage Gerüchte wie bei Personen
auf und paßt sie dem Gesammturtheil, welches man sich im Voraus ge¬
bildet hat, an der geeigneten Stelle an. Diese Art und Weise ist
bequem, besonders für den Ignoranten, welcher sich bei diesem wohl¬
feilen Raisonnement vorzüglich gut steht. Wer wird mir glauben,
wenn ich behaupte, daß auch München seit der Mitte deS vorigen
Jahrhunderts in geistiger Hinsicht Riesenschritte gethan hat? Den¬
noch, es ist so; man mu nur die historischen Vordersätze kennen,
wenn man einen gerechten Vergleich zwischen Sonst und Jetzt an¬
stellen will. Preußen ist vergleichsweise kaum rüstiger fortgeschritten,
wenn man seine geschichtliche und wissenschaftliche Vorbildung er-


wird. Ich will hier nicht die Borzüge des deutschen Nordens ver¬
kennen, nicht jene ermunternde, wenn auch häufig flache und flüchtige
Zuvorkommenheit, nicht jene, wenn auch oft erkünstelte, enthusiastische
Theilnahme für öffentliche Interessen und für den Fortschritt der Zeit,
nicht jene große, wenn auch nicht selten fast krampfhafte geistige Regsam¬
keit im Allgemeinen; aber eben so wahr ist es, daß jenes hastige,
lärmhafte, widerspruchsvolle Treiben, wobei die persönliche Eitelkeit
oft im Spiele ist, und die zungenfertige, kecke Mittelmäßigkeit nur zu
oft sich in den Vordergrund zu drängen weiß, betäubend und verwirrend
auf ein der stille» Betrachtung vorzugsweise hingegebenes Gemüth
wirken muß. Wenn das spanische Fliegenpflaster Blasen auf der
Haut gezogen hat, so liebt man wohl, eine lindernde Salbe auf die
schmerzhafte Stelle zu streichen. Auch der Aufenthalt in München
wirkt Krampf und Schmerz stillend. Man empfindet dies, ohne sich
über das Wie und Wodurch Rechenschaft geben zu können. In man¬
cher Hinsicht fehlt es hier allerdings an Stimulation und geistiger
Anregung, aber wahrlich nicht an Leuten, welche an den Fortschritten
und Entwickelungen der Zeit innig Theil nehmen und in der Beur¬
theilung derselben einen vollkommen tüchtigen und gesunden Men¬
schenverstand blicken lassen, obschon sie »veniger als im Norden auf
dem hohen Pferde des selbstbewußten Raisonnements einherzutraben
wissen, um gelegentlich als schlecht geschulte Sonntagöreiter in den
Sand gesetzt zu werden.

Auch die moderne Zeit hat ihre Fabeln und Mythen, und manche
Ansichten über München scheinen mir in diesen mythischen Kreis zu
gehören. Man greift Einzelnheiten, vage Gerüchte wie bei Personen
auf und paßt sie dem Gesammturtheil, welches man sich im Voraus ge¬
bildet hat, an der geeigneten Stelle an. Diese Art und Weise ist
bequem, besonders für den Ignoranten, welcher sich bei diesem wohl¬
feilen Raisonnement vorzüglich gut steht. Wer wird mir glauben,
wenn ich behaupte, daß auch München seit der Mitte deS vorigen
Jahrhunderts in geistiger Hinsicht Riesenschritte gethan hat? Den¬
noch, es ist so; man mu nur die historischen Vordersätze kennen,
wenn man einen gerechten Vergleich zwischen Sonst und Jetzt an¬
stellen will. Preußen ist vergleichsweise kaum rüstiger fortgeschritten,
wenn man seine geschichtliche und wissenschaftliche Vorbildung er-


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[0496] wird. Ich will hier nicht die Borzüge des deutschen Nordens ver¬ kennen, nicht jene ermunternde, wenn auch häufig flache und flüchtige Zuvorkommenheit, nicht jene, wenn auch oft erkünstelte, enthusiastische Theilnahme für öffentliche Interessen und für den Fortschritt der Zeit, nicht jene große, wenn auch nicht selten fast krampfhafte geistige Regsam¬ keit im Allgemeinen; aber eben so wahr ist es, daß jenes hastige, lärmhafte, widerspruchsvolle Treiben, wobei die persönliche Eitelkeit oft im Spiele ist, und die zungenfertige, kecke Mittelmäßigkeit nur zu oft sich in den Vordergrund zu drängen weiß, betäubend und verwirrend auf ein der stille» Betrachtung vorzugsweise hingegebenes Gemüth wirken muß. Wenn das spanische Fliegenpflaster Blasen auf der Haut gezogen hat, so liebt man wohl, eine lindernde Salbe auf die schmerzhafte Stelle zu streichen. Auch der Aufenthalt in München wirkt Krampf und Schmerz stillend. Man empfindet dies, ohne sich über das Wie und Wodurch Rechenschaft geben zu können. In man¬ cher Hinsicht fehlt es hier allerdings an Stimulation und geistiger Anregung, aber wahrlich nicht an Leuten, welche an den Fortschritten und Entwickelungen der Zeit innig Theil nehmen und in der Beur¬ theilung derselben einen vollkommen tüchtigen und gesunden Men¬ schenverstand blicken lassen, obschon sie »veniger als im Norden auf dem hohen Pferde des selbstbewußten Raisonnements einherzutraben wissen, um gelegentlich als schlecht geschulte Sonntagöreiter in den Sand gesetzt zu werden. Auch die moderne Zeit hat ihre Fabeln und Mythen, und manche Ansichten über München scheinen mir in diesen mythischen Kreis zu gehören. Man greift Einzelnheiten, vage Gerüchte wie bei Personen auf und paßt sie dem Gesammturtheil, welches man sich im Voraus ge¬ bildet hat, an der geeigneten Stelle an. Diese Art und Weise ist bequem, besonders für den Ignoranten, welcher sich bei diesem wohl¬ feilen Raisonnement vorzüglich gut steht. Wer wird mir glauben, wenn ich behaupte, daß auch München seit der Mitte deS vorigen Jahrhunderts in geistiger Hinsicht Riesenschritte gethan hat? Den¬ noch, es ist so; man mu nur die historischen Vordersätze kennen, wenn man einen gerechten Vergleich zwischen Sonst und Jetzt an¬ stellen will. Preußen ist vergleichsweise kaum rüstiger fortgeschritten, wenn man seine geschichtliche und wissenschaftliche Vorbildung er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/496>, abgerufen am 23.12.2024.