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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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wahren Wohlstand zu fördern und die unteren Classen gegen die wahl¬
berechtigten und gesetzgebenden Stande in Schutz zu nehmen? Bis
jetzt zeigte man immer triumphirend auf den materiellen Zustand der
Monarchie, sobald von der Nothwendigkeit geistiger Concessionen, von
durchgreifenden Reformen die Rede war, und Jedermann weiß, daß
eine solche Hinweisung in den Augen der Menge stets eine glänzende
Rechtfertigung einschließt. Fortan wird man sich wohl um andere
Beweismittel, um andere Abwehrungsbehelfe umsehen müssen, denn
das alte schöne Märchen von der österreichischen Behaglichkeit fangt
nachgerade an, ein Märchen im vollen Wortsinn zu werden.

In Wien freilich empfindet man die wachsenden Nothstände nicht,
da ist der Erwerb leicht, wenigstens für die Nothdurft des Lebens,
wenn auch die Vermögenssammlung lange nicht mehr so häusig vor¬
kommt, wie ehedem; allein in den Provinzen greift die Armuth doch
immer mehr um sich, und während die Bevölkerung der Hauptstadt
ihre Orgien feiert, nagen Tausende in der Ferne am Hungertuch. Die
Provinzen geben das Geld, das in Wien von vielen tausend Grund¬
besitzern verschleudert wird, und während so die Gcwcrbsamkeit der
Residenz jährlich steigt, sinkt der Wohlstand der Provinzen immer
tiefer. Daher ist sehr zu befürchten, daß die Bewegungen der öster¬
reichischen Zukunft centrifugal sein werden, und in Wien selbst gar
niemals eine energische Bestrebung Wurzel fassen wird.

Was die Unruhen in Böhmen betrifft, so sind diese wie ein.
Blitzstrahl aus blauem Himmel gekommen, denn darin stimmen alle
Berichte überein, amtliche und nicht offizielle, daß das physische Elend
daselbst keineswegs gegenwärtig unter dortigen Arbeitern größer sei,
als in früheren Jahren. Namentlich weiß das Jahr 1842 im Erz¬
gebirge Dinge zu erzählen, von welchen in diesem Augenblick gar nicht
die Rede sein kann. Es ist demnach weniger der Stachel des Elends,
der die Leute so mit einem Male rappelköpsisch gemacht hat, als viel¬
mehr eine plötzlich geweckte moralische Entrüstung, die sich nicht län¬
ger die Abhängigkeit und Willkür gefallen lassen will, womit das Loos
des Arbeiters in allen fast civilisirten Staaten noch zu kämpfen hat.
Diese Wahrnehmung mußte nothwendig auf innere Triebfedern hin¬
weisen, und diese Seite des Gegenstandes ist es ganz besonders, welche
ich in diesen Zeilen beleuchten wollte, denn die Details sind schon als
Tagesneuigkeiten in die Oeffentlichkeit gekommen, oder sind für die
tiefere Bedeutung der böhmischen Borfälle ohne Belang.

Die mit Umsicht gepflogenen Untersuchungen in Betreff des un¬
ter den Aufständischen verbreiteten Liedes: t>theil n" rebelli, haben
auf Spuren geleitet, die den Ernst der Sache nicht wenig verstärken
und ein grelles Streiflicht auf die Machinationen der Diplomaten
werfen. Auffallend war es schon früher, daß die Aufregung so plötz¬
lich und bestellt hervortrat und sich unmittelbar an jene in Schlesien


wahren Wohlstand zu fördern und die unteren Classen gegen die wahl¬
berechtigten und gesetzgebenden Stande in Schutz zu nehmen? Bis
jetzt zeigte man immer triumphirend auf den materiellen Zustand der
Monarchie, sobald von der Nothwendigkeit geistiger Concessionen, von
durchgreifenden Reformen die Rede war, und Jedermann weiß, daß
eine solche Hinweisung in den Augen der Menge stets eine glänzende
Rechtfertigung einschließt. Fortan wird man sich wohl um andere
Beweismittel, um andere Abwehrungsbehelfe umsehen müssen, denn
das alte schöne Märchen von der österreichischen Behaglichkeit fangt
nachgerade an, ein Märchen im vollen Wortsinn zu werden.

In Wien freilich empfindet man die wachsenden Nothstände nicht,
da ist der Erwerb leicht, wenigstens für die Nothdurft des Lebens,
wenn auch die Vermögenssammlung lange nicht mehr so häusig vor¬
kommt, wie ehedem; allein in den Provinzen greift die Armuth doch
immer mehr um sich, und während die Bevölkerung der Hauptstadt
ihre Orgien feiert, nagen Tausende in der Ferne am Hungertuch. Die
Provinzen geben das Geld, das in Wien von vielen tausend Grund¬
besitzern verschleudert wird, und während so die Gcwcrbsamkeit der
Residenz jährlich steigt, sinkt der Wohlstand der Provinzen immer
tiefer. Daher ist sehr zu befürchten, daß die Bewegungen der öster¬
reichischen Zukunft centrifugal sein werden, und in Wien selbst gar
niemals eine energische Bestrebung Wurzel fassen wird.

Was die Unruhen in Böhmen betrifft, so sind diese wie ein.
Blitzstrahl aus blauem Himmel gekommen, denn darin stimmen alle
Berichte überein, amtliche und nicht offizielle, daß das physische Elend
daselbst keineswegs gegenwärtig unter dortigen Arbeitern größer sei,
als in früheren Jahren. Namentlich weiß das Jahr 1842 im Erz¬
gebirge Dinge zu erzählen, von welchen in diesem Augenblick gar nicht
die Rede sein kann. Es ist demnach weniger der Stachel des Elends,
der die Leute so mit einem Male rappelköpsisch gemacht hat, als viel¬
mehr eine plötzlich geweckte moralische Entrüstung, die sich nicht län¬
ger die Abhängigkeit und Willkür gefallen lassen will, womit das Loos
des Arbeiters in allen fast civilisirten Staaten noch zu kämpfen hat.
Diese Wahrnehmung mußte nothwendig auf innere Triebfedern hin¬
weisen, und diese Seite des Gegenstandes ist es ganz besonders, welche
ich in diesen Zeilen beleuchten wollte, denn die Details sind schon als
Tagesneuigkeiten in die Oeffentlichkeit gekommen, oder sind für die
tiefere Bedeutung der böhmischen Borfälle ohne Belang.

Die mit Umsicht gepflogenen Untersuchungen in Betreff des un¬
ter den Aufständischen verbreiteten Liedes: t>theil n» rebelli, haben
auf Spuren geleitet, die den Ernst der Sache nicht wenig verstärken
und ein grelles Streiflicht auf die Machinationen der Diplomaten
werfen. Auffallend war es schon früher, daß die Aufregung so plötz¬
lich und bestellt hervortrat und sich unmittelbar an jene in Schlesien


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[0431] wahren Wohlstand zu fördern und die unteren Classen gegen die wahl¬ berechtigten und gesetzgebenden Stande in Schutz zu nehmen? Bis jetzt zeigte man immer triumphirend auf den materiellen Zustand der Monarchie, sobald von der Nothwendigkeit geistiger Concessionen, von durchgreifenden Reformen die Rede war, und Jedermann weiß, daß eine solche Hinweisung in den Augen der Menge stets eine glänzende Rechtfertigung einschließt. Fortan wird man sich wohl um andere Beweismittel, um andere Abwehrungsbehelfe umsehen müssen, denn das alte schöne Märchen von der österreichischen Behaglichkeit fangt nachgerade an, ein Märchen im vollen Wortsinn zu werden. In Wien freilich empfindet man die wachsenden Nothstände nicht, da ist der Erwerb leicht, wenigstens für die Nothdurft des Lebens, wenn auch die Vermögenssammlung lange nicht mehr so häusig vor¬ kommt, wie ehedem; allein in den Provinzen greift die Armuth doch immer mehr um sich, und während die Bevölkerung der Hauptstadt ihre Orgien feiert, nagen Tausende in der Ferne am Hungertuch. Die Provinzen geben das Geld, das in Wien von vielen tausend Grund¬ besitzern verschleudert wird, und während so die Gcwcrbsamkeit der Residenz jährlich steigt, sinkt der Wohlstand der Provinzen immer tiefer. Daher ist sehr zu befürchten, daß die Bewegungen der öster¬ reichischen Zukunft centrifugal sein werden, und in Wien selbst gar niemals eine energische Bestrebung Wurzel fassen wird. Was die Unruhen in Böhmen betrifft, so sind diese wie ein. Blitzstrahl aus blauem Himmel gekommen, denn darin stimmen alle Berichte überein, amtliche und nicht offizielle, daß das physische Elend daselbst keineswegs gegenwärtig unter dortigen Arbeitern größer sei, als in früheren Jahren. Namentlich weiß das Jahr 1842 im Erz¬ gebirge Dinge zu erzählen, von welchen in diesem Augenblick gar nicht die Rede sein kann. Es ist demnach weniger der Stachel des Elends, der die Leute so mit einem Male rappelköpsisch gemacht hat, als viel¬ mehr eine plötzlich geweckte moralische Entrüstung, die sich nicht län¬ ger die Abhängigkeit und Willkür gefallen lassen will, womit das Loos des Arbeiters in allen fast civilisirten Staaten noch zu kämpfen hat. Diese Wahrnehmung mußte nothwendig auf innere Triebfedern hin¬ weisen, und diese Seite des Gegenstandes ist es ganz besonders, welche ich in diesen Zeilen beleuchten wollte, denn die Details sind schon als Tagesneuigkeiten in die Oeffentlichkeit gekommen, oder sind für die tiefere Bedeutung der böhmischen Borfälle ohne Belang. Die mit Umsicht gepflogenen Untersuchungen in Betreff des un¬ ter den Aufständischen verbreiteten Liedes: t>theil n» rebelli, haben auf Spuren geleitet, die den Ernst der Sache nicht wenig verstärken und ein grelles Streiflicht auf die Machinationen der Diplomaten werfen. Auffallend war es schon früher, daß die Aufregung so plötz¬ lich und bestellt hervortrat und sich unmittelbar an jene in Schlesien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/431>, abgerufen am 23.12.2024.