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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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Bemerkungen
über Hegel sche Philosophie, von einem Apostaten.



Erster Artikel.

Wer wahrheitsliebend genug ist, den Worten, wie sie der Zeitge¬
brauch uns zuwirft, ein inneres Verständniß bringen zu wollen
und nicht eher zu ruhen und zu rasten, als bis es gelungen oder
ihre Unfaßlichkeit erkannt worden, der trägt einen so sichern Talis¬
man gegen die Lüge in sich, als es überhaupt einen geben mag.
Oder man muß, was dasselbe sagen will, den Charakter haben,
nicht mehr und nicht weniger, denn man ist, sein zu wollen. Solch
selbstvertrauender Bescheidenheit Gegenspiel sind die Pfauenfedern des
Raben in der Fabel. Man hat es in der letzten Zeit erleben müs¬
sen, daß bei einem großen Haufen deutscher Gelehrter und Schrift¬
steller alle Ursprünglichkeit des Denkens und Schreibens erstarb, und
ein bestimmter Modeschnitt sich ihren geistigen Gestalten ausprägte.
Man meinte nicht mehr zeitgemäß zu schreiben, wenn man der In¬
dividualität ihren Lauf ließ; man fand schal und abgeschmackt Alles,
was sich von der allgemeinen iRegel ausnahm -- man las fast
kein Buch mehr, das sich nicht sogleich als zeitgemäß auswies.
Unsere Philosophen hatten nämlich urplötzlich die Entdeckung einer
sogenannten absoluten Form gemacht. Die Wahrheit selbst, eine ein¬
zige, einige, konnte natürlich nur eine einzige Form haben, und diese
war denn auch gutmüthig genug, sich alsobald finden zu lassen. Mit
dem Sprachgebrauche des Volkes mochte sie wenig zu thun haben.
Dieses spricht, wie ihm Mund und Schnabel gewachsen, und be¬
wußte Thätigkeit darf ihm dabei kaum zugeschrieben werden. Solch
unbewußtes und fast instinktartiges Bilden und Gestalten des Volkes
aber ist das grade Gegentheil aller Philosophie. Diese neuerstan-


Bemerkungen
über Hegel sche Philosophie, von einem Apostaten.



Erster Artikel.

Wer wahrheitsliebend genug ist, den Worten, wie sie der Zeitge¬
brauch uns zuwirft, ein inneres Verständniß bringen zu wollen
und nicht eher zu ruhen und zu rasten, als bis es gelungen oder
ihre Unfaßlichkeit erkannt worden, der trägt einen so sichern Talis¬
man gegen die Lüge in sich, als es überhaupt einen geben mag.
Oder man muß, was dasselbe sagen will, den Charakter haben,
nicht mehr und nicht weniger, denn man ist, sein zu wollen. Solch
selbstvertrauender Bescheidenheit Gegenspiel sind die Pfauenfedern des
Raben in der Fabel. Man hat es in der letzten Zeit erleben müs¬
sen, daß bei einem großen Haufen deutscher Gelehrter und Schrift¬
steller alle Ursprünglichkeit des Denkens und Schreibens erstarb, und
ein bestimmter Modeschnitt sich ihren geistigen Gestalten ausprägte.
Man meinte nicht mehr zeitgemäß zu schreiben, wenn man der In¬
dividualität ihren Lauf ließ; man fand schal und abgeschmackt Alles,
was sich von der allgemeinen iRegel ausnahm — man las fast
kein Buch mehr, das sich nicht sogleich als zeitgemäß auswies.
Unsere Philosophen hatten nämlich urplötzlich die Entdeckung einer
sogenannten absoluten Form gemacht. Die Wahrheit selbst, eine ein¬
zige, einige, konnte natürlich nur eine einzige Form haben, und diese
war denn auch gutmüthig genug, sich alsobald finden zu lassen. Mit
dem Sprachgebrauche des Volkes mochte sie wenig zu thun haben.
Dieses spricht, wie ihm Mund und Schnabel gewachsen, und be¬
wußte Thätigkeit darf ihm dabei kaum zugeschrieben werden. Solch
unbewußtes und fast instinktartiges Bilden und Gestalten des Volkes
aber ist das grade Gegentheil aller Philosophie. Diese neuerstan-


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[0040] Bemerkungen über Hegel sche Philosophie, von einem Apostaten. Erster Artikel. Wer wahrheitsliebend genug ist, den Worten, wie sie der Zeitge¬ brauch uns zuwirft, ein inneres Verständniß bringen zu wollen und nicht eher zu ruhen und zu rasten, als bis es gelungen oder ihre Unfaßlichkeit erkannt worden, der trägt einen so sichern Talis¬ man gegen die Lüge in sich, als es überhaupt einen geben mag. Oder man muß, was dasselbe sagen will, den Charakter haben, nicht mehr und nicht weniger, denn man ist, sein zu wollen. Solch selbstvertrauender Bescheidenheit Gegenspiel sind die Pfauenfedern des Raben in der Fabel. Man hat es in der letzten Zeit erleben müs¬ sen, daß bei einem großen Haufen deutscher Gelehrter und Schrift¬ steller alle Ursprünglichkeit des Denkens und Schreibens erstarb, und ein bestimmter Modeschnitt sich ihren geistigen Gestalten ausprägte. Man meinte nicht mehr zeitgemäß zu schreiben, wenn man der In¬ dividualität ihren Lauf ließ; man fand schal und abgeschmackt Alles, was sich von der allgemeinen iRegel ausnahm — man las fast kein Buch mehr, das sich nicht sogleich als zeitgemäß auswies. Unsere Philosophen hatten nämlich urplötzlich die Entdeckung einer sogenannten absoluten Form gemacht. Die Wahrheit selbst, eine ein¬ zige, einige, konnte natürlich nur eine einzige Form haben, und diese war denn auch gutmüthig genug, sich alsobald finden zu lassen. Mit dem Sprachgebrauche des Volkes mochte sie wenig zu thun haben. Dieses spricht, wie ihm Mund und Schnabel gewachsen, und be¬ wußte Thätigkeit darf ihm dabei kaum zugeschrieben werden. Solch unbewußtes und fast instinktartiges Bilden und Gestalten des Volkes aber ist das grade Gegentheil aller Philosophie. Diese neuerstan-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/40>, abgerufen am 22.12.2024.