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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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sah ich das Gesicht -- ich traute kaum meinen Augen -- es schien
Linnv selber zu sein, -- die Gesichtszüge ganz ähnlich, ähnlich die
Allongenperücke -- die Limiäa in der linken Hand. -- Das ist nicht
möglich! Ich träume! rief ich und rieb mir die Augen, als wenn
sie nicht recht sehen könnten. Aber immer stärker trat die Aehnlichkeit
hervor, je mehr sich die Gestalt nahte. Ich träume, dachte ich, und
doch wieder, ich träume nicht, ich sah ja mit klaren Augen ihn selbst,
den großen Meister. Ja, er war es selbst! ich konnte nun nicht mehr
zweifeln. Ich hatte nur noch so viel Zeit, schnell den Lehrstuhl zu
verlassen und mich auf die nächste Zuhörerbank zu setzen. Da trat
Linn" herein.

Er grüßte, freundlich mit dem Haupte nickend, und bestieg den
Katheder. "I^e" l-u',in"t cullegiuin" begann er: "Du, ich und der
liebe Gott über uns." Sonderbare Gefühle durchzuckten mich, aber
vorherrschend war das Gefühl einer großen Bangigkeit. Ich befürch¬
tete, daß er heute ein Repetitorium über Botanik halten wolle! --
Ich wollte ihn bitten, nicht zu repetiren, und ihm vorstellen, daß ich
schon alle meine Eramina gemacht, daß auch schon die naturhistori-
schen Prüfungen hinter mir lägen, daß ich Gott dankte, nie mehr
geprüft werden zu dürfen, daß ich bereits Doctor der Weltweisheit
und Magister der freien Künste sei, -- ja, was wollte ich nicht Alles
in diesem Augenblicke, -- allein mein Mund war fest verschlossen,
-- ich verstummte.

Linnv sah auf seine Linnäa hin. Da vermuthete ich, daß er
mich zunächst über sie eraminiren werde. Ich recapitulirte schneller,
als je bei meinem Lehrer, die Eigenschaften dieser Blume: caudis
in-venaticus, tvrvL, wnAi^unis, rien"""" etc. öde. -- Tausend
Anderes durchkreuzte meinen armen Kopf auf verwirrende Weise.
Ich wollte sprechen, aber die Bangigkeit verschloß mir den Mund.

Nun erhob er den Blick und sah auf mich herab. Er mochte
meine Verwirrung bemerken, denn ein Lächeln zog sich über seine
Lippen hin, aber zugleich sprach sein liebevoll freundliches Auge mir
wieder Muth ein.

Mein Gedankenstrom ward gehemmt. Linmi sing sein Colle-
gium an. Er verglich das Studium der Sprache mit dem der Na¬
tur, eben sowohl als Mittel zur Gotterkenntniß wie als Zweck zur
Selbsterkenntniß. Er wies einerseits auf die Thorheit der Kurzsichtigen


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sah ich das Gesicht — ich traute kaum meinen Augen — es schien
Linnv selber zu sein, — die Gesichtszüge ganz ähnlich, ähnlich die
Allongenperücke — die Limiäa in der linken Hand. — Das ist nicht
möglich! Ich träume! rief ich und rieb mir die Augen, als wenn
sie nicht recht sehen könnten. Aber immer stärker trat die Aehnlichkeit
hervor, je mehr sich die Gestalt nahte. Ich träume, dachte ich, und
doch wieder, ich träume nicht, ich sah ja mit klaren Augen ihn selbst,
den großen Meister. Ja, er war es selbst! ich konnte nun nicht mehr
zweifeln. Ich hatte nur noch so viel Zeit, schnell den Lehrstuhl zu
verlassen und mich auf die nächste Zuhörerbank zu setzen. Da trat
Linn» herein.

Er grüßte, freundlich mit dem Haupte nickend, und bestieg den
Katheder. „I^e« l-u',in»t cullegiuin" begann er: „Du, ich und der
liebe Gott über uns." Sonderbare Gefühle durchzuckten mich, aber
vorherrschend war das Gefühl einer großen Bangigkeit. Ich befürch¬
tete, daß er heute ein Repetitorium über Botanik halten wolle! —
Ich wollte ihn bitten, nicht zu repetiren, und ihm vorstellen, daß ich
schon alle meine Eramina gemacht, daß auch schon die naturhistori-
schen Prüfungen hinter mir lägen, daß ich Gott dankte, nie mehr
geprüft werden zu dürfen, daß ich bereits Doctor der Weltweisheit
und Magister der freien Künste sei, — ja, was wollte ich nicht Alles
in diesem Augenblicke, — allein mein Mund war fest verschlossen,
— ich verstummte.

Linnv sah auf seine Linnäa hin. Da vermuthete ich, daß er
mich zunächst über sie eraminiren werde. Ich recapitulirte schneller,
als je bei meinem Lehrer, die Eigenschaften dieser Blume: caudis
in-venaticus, tvrvL, wnAi^unis, rien»»»« etc. öde. — Tausend
Anderes durchkreuzte meinen armen Kopf auf verwirrende Weise.
Ich wollte sprechen, aber die Bangigkeit verschloß mir den Mund.

Nun erhob er den Blick und sah auf mich herab. Er mochte
meine Verwirrung bemerken, denn ein Lächeln zog sich über seine
Lippen hin, aber zugleich sprach sein liebevoll freundliches Auge mir
wieder Muth ein.

Mein Gedankenstrom ward gehemmt. Linmi sing sein Colle-
gium an. Er verglich das Studium der Sprache mit dem der Na¬
tur, eben sowohl als Mittel zur Gotterkenntniß wie als Zweck zur
Selbsterkenntniß. Er wies einerseits auf die Thorheit der Kurzsichtigen


Grenzbvte» I84i. II. 47
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[0377] sah ich das Gesicht — ich traute kaum meinen Augen — es schien Linnv selber zu sein, — die Gesichtszüge ganz ähnlich, ähnlich die Allongenperücke — die Limiäa in der linken Hand. — Das ist nicht möglich! Ich träume! rief ich und rieb mir die Augen, als wenn sie nicht recht sehen könnten. Aber immer stärker trat die Aehnlichkeit hervor, je mehr sich die Gestalt nahte. Ich träume, dachte ich, und doch wieder, ich träume nicht, ich sah ja mit klaren Augen ihn selbst, den großen Meister. Ja, er war es selbst! ich konnte nun nicht mehr zweifeln. Ich hatte nur noch so viel Zeit, schnell den Lehrstuhl zu verlassen und mich auf die nächste Zuhörerbank zu setzen. Da trat Linn» herein. Er grüßte, freundlich mit dem Haupte nickend, und bestieg den Katheder. „I^e« l-u',in»t cullegiuin" begann er: „Du, ich und der liebe Gott über uns." Sonderbare Gefühle durchzuckten mich, aber vorherrschend war das Gefühl einer großen Bangigkeit. Ich befürch¬ tete, daß er heute ein Repetitorium über Botanik halten wolle! — Ich wollte ihn bitten, nicht zu repetiren, und ihm vorstellen, daß ich schon alle meine Eramina gemacht, daß auch schon die naturhistori- schen Prüfungen hinter mir lägen, daß ich Gott dankte, nie mehr geprüft werden zu dürfen, daß ich bereits Doctor der Weltweisheit und Magister der freien Künste sei, — ja, was wollte ich nicht Alles in diesem Augenblicke, — allein mein Mund war fest verschlossen, — ich verstummte. Linnv sah auf seine Linnäa hin. Da vermuthete ich, daß er mich zunächst über sie eraminiren werde. Ich recapitulirte schneller, als je bei meinem Lehrer, die Eigenschaften dieser Blume: caudis in-venaticus, tvrvL, wnAi^unis, rien»»»« etc. öde. — Tausend Anderes durchkreuzte meinen armen Kopf auf verwirrende Weise. Ich wollte sprechen, aber die Bangigkeit verschloß mir den Mund. Nun erhob er den Blick und sah auf mich herab. Er mochte meine Verwirrung bemerken, denn ein Lächeln zog sich über seine Lippen hin, aber zugleich sprach sein liebevoll freundliches Auge mir wieder Muth ein. Mein Gedankenstrom ward gehemmt. Linmi sing sein Colle- gium an. Er verglich das Studium der Sprache mit dem der Na¬ tur, eben sowohl als Mittel zur Gotterkenntniß wie als Zweck zur Selbsterkenntniß. Er wies einerseits auf die Thorheit der Kurzsichtigen Grenzbvte» I84i. II. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/377>, abgerufen am 23.07.2024.