Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.-- Nun fügte es sich, daß von allen Schülern, welche mein Jetzt stiegen wir aus und eilten zunächst dahin, wo Sinne'S Ich hatte Zeit genug, ihre Physiognomie genauer zu studiren. Sie erkundigte sich nach Königsberg und Danzig; beide Städte — Nun fügte es sich, daß von allen Schülern, welche mein Jetzt stiegen wir aus und eilten zunächst dahin, wo Sinne'S Ich hatte Zeit genug, ihre Physiognomie genauer zu studiren. Sie erkundigte sich nach Königsberg und Danzig; beide Städte <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0373" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180932"/> <p xml:id="ID_881" prev="#ID_880"> — Nun fügte es sich, daß von allen Schülern, welche mein<lb/> Lehrer gehabt hatte, und aus deren Zahl viele tüchtige Botaniker<lb/> hervorgegangen sind, gerade ich, ein Nichtbotaniker, der erste<lb/> und einzige sein sollte, der jener Herzenspflicht genügte. Je glückli¬<lb/> cher dieser Zufall war, desto mehr fühlte ich, wie angenehm es sei,<lb/> von jener sokratischen Wahrheit: „Wir wissen Nichts, außer daß wir<lb/> Nichts wissen", so ganz allein für sich im Stillen ohne Mitwissen<lb/> Anderer überzeugt zu sein. Und hiermit verband sich zugleich ein<lb/> zweites angenehmes Gefühl, nämlich das, jetzt keinen Examinator<lb/> mehr, weder von Staats-, noch von Rechtswegen fürchten zu dür¬<lb/> fen, sondern mit allgemeinen, rechts und links ercursirenden, philoso¬<lb/> phisch verbrämten Redensarten von natürlichen und künstlichen Sy¬<lb/> stemen und Aehnlichem herumplänkeln zu können. Ist doch auch unser<lb/> Goethe von so manchem Manne besucht worden, welcher von der<lb/> Poesie so weit entfernt war, als der Tartarus vom Olymp, oder<lb/> als Berliner Blau vom Blau des Himmels. —</p><lb/> <p xml:id="ID_882"> Jetzt stiegen wir aus und eilten zunächst dahin, wo Sinne'S<lb/> Tochter im Sommer zum Andenken an ihren Vater noch immer<lb/> einen einfachen, ländlich schönen Hof bewohnt. Wir traten ein, wur¬<lb/> den gemeldet und mit einer höchst wohlthuenden Freundlichkeit em¬<lb/> pfangen, wie man sie nur bei den einfachen, gemüthlichen Völkern<lb/> des Nordens zu finden gewohnt ist. Die Dame freute sich, daß ihr<lb/> Vater bei uns Deutschen noch in solchem liebevollen Andenken stehe,<lb/> und daß man seine Stätte so gern besuche.</p><lb/> <p xml:id="ID_883"> Ich hatte Zeit genug, ihre Physiognomie genauer zu studiren.<lb/> Ihr Gesicht war ehrwürdig und noch sehr interessant, obwohl es be¬<lb/> reits von fünfundachtzig Sommern beschienen worden. Mein Lehrer<lb/> besaß ein sehr gutes Gemälde von Linne, das über seinem Bette hing,<lb/> und hatte uns Schüler dann und wann mit nach H.'.use genommen,<lb/> um es uns zu zeigen. Daher hatte ich mir Linnv's Ge¬<lb/> sichtszüge sehr genau eingeprägt und fand nun bestätigt, was ich schon<lb/> in Upsala gehört, daß Fräulein Linnv ihrem Vater frappant gleiche.<lb/> Vorzüglich bezeugten die Aehnlichkeit ihre freundlich lebhaften Augen<lb/> und der liebliche Zug um den Mund. Nur die stark sich kräuselnden<lb/> Haarlocken und die niedliche Haube machten das Gesicht etwas brei¬<lb/> ter und höher.</p><lb/> <p xml:id="ID_884" next="#ID_885"> Sie erkundigte sich nach Königsberg und Danzig; beide Städte</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0373]
— Nun fügte es sich, daß von allen Schülern, welche mein
Lehrer gehabt hatte, und aus deren Zahl viele tüchtige Botaniker
hervorgegangen sind, gerade ich, ein Nichtbotaniker, der erste
und einzige sein sollte, der jener Herzenspflicht genügte. Je glückli¬
cher dieser Zufall war, desto mehr fühlte ich, wie angenehm es sei,
von jener sokratischen Wahrheit: „Wir wissen Nichts, außer daß wir
Nichts wissen", so ganz allein für sich im Stillen ohne Mitwissen
Anderer überzeugt zu sein. Und hiermit verband sich zugleich ein
zweites angenehmes Gefühl, nämlich das, jetzt keinen Examinator
mehr, weder von Staats-, noch von Rechtswegen fürchten zu dür¬
fen, sondern mit allgemeinen, rechts und links ercursirenden, philoso¬
phisch verbrämten Redensarten von natürlichen und künstlichen Sy¬
stemen und Aehnlichem herumplänkeln zu können. Ist doch auch unser
Goethe von so manchem Manne besucht worden, welcher von der
Poesie so weit entfernt war, als der Tartarus vom Olymp, oder
als Berliner Blau vom Blau des Himmels. —
Jetzt stiegen wir aus und eilten zunächst dahin, wo Sinne'S
Tochter im Sommer zum Andenken an ihren Vater noch immer
einen einfachen, ländlich schönen Hof bewohnt. Wir traten ein, wur¬
den gemeldet und mit einer höchst wohlthuenden Freundlichkeit em¬
pfangen, wie man sie nur bei den einfachen, gemüthlichen Völkern
des Nordens zu finden gewohnt ist. Die Dame freute sich, daß ihr
Vater bei uns Deutschen noch in solchem liebevollen Andenken stehe,
und daß man seine Stätte so gern besuche.
Ich hatte Zeit genug, ihre Physiognomie genauer zu studiren.
Ihr Gesicht war ehrwürdig und noch sehr interessant, obwohl es be¬
reits von fünfundachtzig Sommern beschienen worden. Mein Lehrer
besaß ein sehr gutes Gemälde von Linne, das über seinem Bette hing,
und hatte uns Schüler dann und wann mit nach H.'.use genommen,
um es uns zu zeigen. Daher hatte ich mir Linnv's Ge¬
sichtszüge sehr genau eingeprägt und fand nun bestätigt, was ich schon
in Upsala gehört, daß Fräulein Linnv ihrem Vater frappant gleiche.
Vorzüglich bezeugten die Aehnlichkeit ihre freundlich lebhaften Augen
und der liebliche Zug um den Mund. Nur die stark sich kräuselnden
Haarlocken und die niedliche Haube machten das Gesicht etwas brei¬
ter und höher.
Sie erkundigte sich nach Königsberg und Danzig; beide Städte
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